Es: Roman
ein Verlangen ein, und sie wusste weder, was es verlangte, noch spielte es eine Rolle. Es reichte ihr, die Wärme zu spüren, die Beharrlichkeit, mit der das Blut durch ihre Adern rauschte. Verlangen, dachte sie, und die Flutwelle in ihrem Inneren schien an Geschwindigkeit zu gewinnen und sie mitzureißen auf ihrem unweigerlichen Weg in den Abgrund.
Sie lachte zu den Sternen hinauf, verängstigt, aber frei, ihr Entsetzen so stechend wie Schmerzen und so süß wie ein reifer Oktoberapfel, und als im oberen Stockwerk des Hauses, auf dessen Steinmauer sie saß, ein Licht anging, packte sie ihren Koffer und floh – immer noch lachend – in die Nacht hinein.
6. Bill Denbrough nimmt sich Zeit
»Wegfahren?«, wiederholte Audra ein wenig verängstigt und zog ihre nackten Füße an den Körper. Der Fußboden war kalt. Im ganzen Landhaus war es kalt, um genau zu sein. Der Frühling in Südengland war dieses Jahr ungewöhnlich nasskalt gewesen, und bei seinen regelmäßigen Morgen-und Abendspaziergängen hatte Bill Denbrough unwillkürlich mehr als einmal an Maine gedacht … und überraschenderweise auch an Derry.
Das Landhaus sollte eine Zentralheizung haben – zumindest stand es so in der Anzeige, und in dem ordentlichen, kleinen Keller gab es auch einen Ofenschacht, der in den ehemaligen Kohlenkasten hineingebaut worden war -, aber Bill und Audra hatten schon kurz nach Beginn der Dreharbeiten festgestellt, was die Briten unter Zentralheizung verstanden – nämlich, dass man morgens keine Eisschicht in der Kloschüssel wegpissen musste. Es war jetzt Morgen, gerade Viertel vor acht. Bill hatte den Telefonhörer vor fünf Minuten aufgelegt.
»Bill, du kannst doch nicht einfach wegfahren, und das weißt du auch.«
»Ich muss«, sagte er und ging zum Schrank auf der anderen Seite des Zimmers. Er nahm eine Flasche Glenfiddich vom obersten Regal und schenkte sich ein Glas ein, wobei er etwas verschüttete. »Verdammt!«, murmelte er.
»Wer war da vorhin am Telefon? Was jagt dir solche Angst ein, Bill?«
»Ich habe keine Angst.«
»Oh? Zittern deine Hände immer so? Nimmst du deinen ersten Drink immer vor dem Frühstück?«
Er setzte sich wieder in den Sessel, während der Morgenmantel seine Knöchel umspielte, und versuchte zu lächeln, aber es gelang ihm nicht so recht.
Im Fernsehen war der BBC-Sprecher gerade am Ende der schlechten Nachrichten dieses Morgens angelangt und ging nun zu den Fußballergebnissen des Vorabends über. Als sie einen Monat vor Beginn der Dreharbeiten in der kleinen Vorstadt Fleet angekommen waren, waren sie beide von der technischen Qualität des britischen Fernsehens begeistert gewesen – auf einem guten Pye-Farbfernseher sah es so aus, als könnte man mit einem Schritt mitten im Geschehen stehen. Mehr Zeilen oder irgendsowas, hatte Bill gesagt. Ich weiß nicht, was es ist, aber es sieht fantastisch aus, hatte Audra entgegnet. Das war, bevor sie entdeckt hatten, dass ein großer Teil des Programms aus amerikanischen Fernsehserien wie Dallas und schier endlosen Berichterstattungen über obskure Sportarten wie Darts (wo die Wettkampfteilnehmer alle aussahen wie überspannte Sumoringer) oder langweilige Sportarten wie Fußball (britischer Fußball war schon öde, aber Cricket setzte dem noch die Krone auf) bestand.
»Ich habe in letzter Zeit sehr viel an mein Zuhause gedacht«, sagte er und nippte an seinem Drink.
»An dein Zuhause?«, wiederholte sie und sah so verwirrt aus, dass er kurz auflachte.
»Arme Audra! Fast elf Jahre mit mir verheiratet – und du weißt nicht das Geringste von mir. Was sagt man dazu?« Wieder lachte er kurz auf und schüttete den letzten Rest seines Drinks hinunter. Die Art, wie er lachte, gab ihr ebenso zu denken wie die Tatsache, dass er um diese Uhrzeit ein Glas Scotch in der Hand hatte. Das Lachen ähnelte eher einem unterdrückten Schmerzensschrei als einem Ausdruck der Fröhlichkeit. »Ich frage mich, ob die anderen auch Ehepartner haben, die gerade herausfinden, wie wenig sie über ihren Partner wissen. Ich schätze, ja.«
»Billy, ich weiß jedenfalls, dass ich dich liebe«, sagte sie. »Elf Jahre lang hat das gereicht.«
»Ich weiß.« Er lächelte sie an – ein liebevolles, müdes und verängstigtes Lächeln.
»Bitte sag mir doch, was los ist.«
Sie sah ihn mit ihren herrlichen grauen Augen beschwörend an, während sie in dem Sessel des Hauses kauerte, die Füße mittlerweile unter den Saum des Nachthemdes gezogen, diese Frau, die er
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