Es: Roman
wählen, weil es keine Möglichkeit gibt. Man kann es ebenso wenig verhindern wie man mit dem Schläger in der Hand auf dem Schlagmal stehen und sich von einem Fastball treffen lassen kann. Ich muss gehen. Dieses Versprechen … sitzt in meinem Gehirn wie ein Angelhaken.«
Sie stand auf, ging auf ihn zu, legte ihm eine Hand auf die Schulter und drehte ihn zu sich um.
»Dann nimm mich mit.«
In seinem Gesicht spiegelte sich plötzlich so nacktes Entsetzen – eine derartige Angst um sie -, dass sie erschüttert zurückwich.
»Nein«, rief er. »Nein, daran darfst du nicht denken, Audra. Du darfst nicht einmal in die Nähe von Derry kommen. Derry wird in nächster Zeit ein sehr schlechter Aufenthaltsort sein, nehme ich an. Du wirst hierbleiben und deine Rolle spielen und mich überall entschuldigen. Versprich mir das!«
»Dir das versprechen?«, fragte sie und sah ihm in die Augen. »Soll ich das wirklich?«
»Audra«
»Soll ich wirklich? Du hast einmal ein Versprechen gegeben – und sieh dir an, in welchen Schlamassel dich das gebracht hat! Und mich ebenfalls, weil ich deine Frau bin und dich liebe.«
Seine großen Hände schlossen sich schmerzhaft um ihre Schultern. »Versprich es mir! Versprich es! Ve-Ve-Versp-spsp…«
Sie konnte es nicht aushalten – dieses hilflos in seinem Mund stecken gebliebene Wort.
»Ich verspreche es!«, sagte sie und brach in Tränen aus. »Okay, ich verspreche es – bist du jetzt zufrieden? O Gott, du bist verrückt, die ganze Sache ist verrückt, aber ich verspreche es!«
Er legte den Arm um sie und führte sie zur Couch. Brachte ihr einen Brandy. Sie nippte daran und fasste sich allmählich wieder.
»Wann reist du also ab?«
»Heute«, sagte er. »Concorde. Ich schaffe es, wenn ich mit dem Auto statt mit dem Zug nach Heathrow fahre. Freddie wollte mich nach dem Mittagessen sehen. Du wirst wie gewöhnlich um neun bei den Dreharbeiten sein, und ansonsten spielst du die Unwissende. Verstehst du?«
Sie nickte widerstrebend.
»Ich werde in New York sein, bevor es hier überhaupt auffällt, dass ich nicht da bin. Vor Sonnenuntergang werde ich schon in Derry sein, wenn ich gute V-V-Verbindungen habe.«
»Und wann werde ich dich wiedersehen?«, fragte sie leise.
Er legte den Arm um sie und drückte sie fest an sich, aber ihre Frage beantwortete er nicht.
Derry:
Das erste Zwischenspiel
»Wie viele Menschenaugen … hatten im Laufe der Jahre
Blicke auf ihre geheimen Anatomien erhaschen können?«
CLIVE BARKER
DIE BÜCHER DES BLUTES
Der nachfolgende Auszug, ebenso wie alle anderen Zwischenspiele, stammt aus »Derry: Eine nicht autorisierte Stadtgeschichte« von Michael Hanlon; unveröffentlichte Aufzeichnungen, die im Keller der Stadtbücherei Derry gefunden wurden. Oben genannter Titel stand auf dem Ordner, in dem diese Aufzeichnungen lagen. In den Notizen selbst gibt der Autor seinem Werk dann mehrmals den Titel: » Derry: Ein Blick durch die Hintertür der Hölle«.
Man kann annehmen, dass der Gedanke an eine Veröffentlichung populärer Art Mr. Hanlon häufig durch den Kopf gegangen ist.
2. Januar 1985
Kann eine ganze Stadt heimgesucht werden?
So, wie manche Spukhäuser heimgesucht werden?
Nicht nur ein einzelnes Haus in dieser Stadt oder eine einzige Straßenecke, nicht ein einzelnes Auto oder ein einziges Basketballfeld in einem einzigen kleinen Park, wo der netzlose Korb bei Sonnenuntergang hervorsteht wie ein obskures blutiges Folterinstrument? Nicht nur ein einzelnes Gebiet – sondern alles? Mit allem Drum und Dran?
Kann das sein?
Hören Sie:
Heimsuchung: schweres, großes Unglück; Besuch, meistens lästiger oder unangenehmer Art; Plage
heimsuchen: in freundlicher oder feindlicher Absicht jemanden aufsuchen; überfallen; treffen, schlagen (Leiden, Unglück);
Beispiele zum Gebrauch: von einer Seuche heimgesucht werden; von einer Heuschreckenplage heimgesucht werden; von Geistern heimgesucht werden.
Es ist bekannt, WER Adrian Mellon zusammengeschlagen und dann über die Brücke geworfen hat.
Aber WAS hat unter der Brücke gelauert?
Wovon wird Derry heimgesucht?
Wovon, in Gottes Namen?
Wissen Sie, irgendwie ist es interessant – ich habe nicht gewusst, dass man solche Angst bekommen kann, wie ich seit der Sache mit Adrian Mellon, und dass man trotzdem weiterlebt und auch noch funktioniert. Es ist, als wäre ich in eine Geschichte geraten, und alle wissen, solche Angst soll man erst am Ende der Geschichte haben, wenn die Bestie im
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