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Es: Roman

Es: Roman

Titel: Es: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Zeugnisverteilung nicht aufgerufen worden, und das bedeutete nichts Gutes. Ben machte das nervös, denn wenn Henry wieder sitzen bleiben würde, wäre Ben teilweise dafür verantwortlich … und Henry wusste das.
    Vor gut einer Woche, während der schriftlichen Prüfungsarbeiten in Mathematik, Geografie und Rechtschreibung, waren sie von Mrs. Douglas umgesetzt worden – sie hatte die Plätze ausgelost -, und dabei war Ben in der letzten Reihe gelandet, neben Henry Bowers. Er hatte sich wie immer tief über seine Blätter gebeugt und sie mit dem Arm abgedeckt, weil das seine Lieblingsposition war – sein Bauch spürte den irgendwie beruhigenden Druck des Tisches, während er manchmal nachdenklich an seinem Stift lutschte.
    Etwa nach der Hälfte der Mathematikprüfung am Dienstag hatte Ben über den Gang hinweg einen geflüsterten Befehl gehört, so leise und meisterhaft vorgebracht wie von einem erfahrenen alten Sträfling im Gefängnishof: »Lass mich abschreiben!«
    Er hatte einen Blick nach links geworfen und direkt in die schwarzen, wütenden Augen von Henry Bowers geschaut. Henry war für einen Zwölfjährigen sehr groß, mit kräftigen Arm- und Beinmuskeln – sein Vater, von dem es hieß, er sei verrückt, hatte eine Farm am Ende der Kansas Street, in der Nähe der Stadtgrenze von Newport, und Henry musste mindestens dreißig Stunden wöchentlich harken, Unkraut jäten, pflanzen oder ernten – wenn es etwas zu ernten gab.
    Henrys Haare waren so kurz geschnitten, dass seine weiße Schädeldecke durchschimmerte. Mit einem Wachs, das er stets in der Gesäßtasche seiner Jeans bei sich trug, brachte er seinen Pony zum Stehen, sodass die Haare über seiner Stirn wie die Zähne eines nahenden Rasentrimmers aussahen.Er roch immer nach Schweiß und Juicy-Fruit-Kaugummis und trug mit Vorliebe eine pinkfarbene Motorradjacke mit Adler auf dem Rücken. Als ein Viertklässler es einmal gewagt hatte, über diese Jacke zu lachen, war Henry blitzschnell über ihn hergefallen, hatte dem unglückseligen Jungen seine schmutzige Faust ins Gesicht gerammt und ihm drei Vorderzähne ausgeschlagen. Daraufhin war Henry für zwei Wochen vom Schulbesuch ausgeschlossen worden. Ben hatte damals die zwar diffuse, aber auch glühende Hoffnung der Unterdrückten und Terrorisierten gehegt, dass man Henry für immer von der Schule verweisen würde, aber dieses Glück war ihm nicht vergönnt. Zwei Wochen später war Henry wieder Unheil verkündend auf den Schulhof stolziert, prächtig anzusehen in seiner pinkfarbenen Motorradjacke. Sein Pony war wie immer gewachst und stand so stark ab, dass er vor seiner Kopfhaut zu fliehen schien. Unter beiden Augen waren noch die Spuren der Prügel zu erkennen gewesen, die sein verrückter Vater ihm für »Kämpfen im Schulhof« verpasst hatte. Die Spuren der Prügel verschwanden nach dieser Lektion irgendwann, nicht aber die Angst der Kinder, die mit Henry gemeinsam zur Schule gehen mussten. Soweit Ben wusste, hatte es danach niemand mehr gewagt, über Henrys pinkfarbene Motorradjacke mit dem Adler auf dem Rücken zu spotten.
    Als Henry Ben während der Prüfung grimmig aufgefordert hatte, ihn abschreiben zu lassen, waren Ben drei Gedanken durch den Kopf geschossen – sein Verstand arbeitete so schnell und präzise, wie sein Körper fett und schwerfällig war. Wenn Mrs. Douglas bemerkte, dass Henry von ihm abschrieb, würden sie beide für die Prüfungsarbeiten Sechser bekommen. Das war sein erster Gedanke gewesen, und der zweite: Wenn er Henry nicht abschreiben ließ, würde dieser ihm nach der Schule auflauern und ihm die berüchtigten Fausthiebe verpassen, wobei Belch Huggins und Victor Criss vermutlich seine Arme festhalten würden.
    Das waren die Gedanken eines Kindes gewesen, was nicht weiter überraschte, denn er war ein Kind. Sein dritter und letzter Gedankengang war komplizierter gewesen, fast schon der eines Erwachsenen.
    Vielleicht kriegt er mich, okay. Aber vielleicht kann ich ihm in der letzten Schulwoche auch aus dem Weg gehen. Ganz sicher kann ich das, wenn ich mir Mühe gebe. Und vielleicht vergisst er die Sache im Laufe des Sommers. Ja. Er ist ziemlich dumm. Wenn er durch diese Prüfung fällt, wird er vielleicht wieder sitzen bleiben. Er wird nicht mehr in meiner Klasse …Ich werde dann auch vor ihm auf die Junior Highschool kommen. Ich werde vielleicht … frei sein.
    »Lass mich abschreiben!«, hatte Henry wieder geflüstert, fordernd, mit blitzenden schwarzen Augen.
    Ben hatte

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