Es stirbt in mir
Das einzige, was ich vor ihr verbarg, war das zentrale Faktum meines Lebens, das Faktum, das mich in jeder Beziehung geformt hatte.) Sie erzählte von ihrer Ehe – jung, mit zwanzig, und kurz, und leer –, und davon, wie sie in den drei Jahren seit ihrer Scheidung gelebt hatte: eine Folge von Männern, ein Ausflug in den Okkultismus und die Reichsche Therapie, eine neu gewonnene Freude an ihrem Verlagsberuf. Trunkene Wochen.
Dann, unsere dritte Woche. Mein zweiter Ausflug in ihre Gedanken. Eine drückend heiße Juninacht, ein Vollmond, der kaltes Licht durch die Ritzen der Jalousie in unser Zimmer goß. Sie saß rittlings auf mir – ihre Lieblingsposition –, und ihr sehr bleicher Körper schimmerte weiß in der irrealen Dunkelheit. Ihr langer, schmaler Torso ragte hoch über mir empor. Ihr Gesicht war halb von ihren langen, wirren Haaren verborgen. Ihre Augen waren geschlossen, die Lippen schlaff. Ihre Brüste wirkten, von unten gesehen, noch größer als sonst. Kleopatra bei Mondschein. Sie stieß und schaukelte sich tiefer und tiefer in ihre Ekstase hinein und war in ihrer Schönheit und Fremdartigkeit so überwältigend, daß ich es nicht lassen konnte: Ich mußte sie im Augenblick ihres Höhepunktes belauschen, belauschen bis in alle Tiefen. Deswegen öffnete ich die Schranke, die ich selbst so gewissenhaft errichtet hatte, und erreichte mit den Fingern meiner neugierigen Gedanken ihre Seele gerade in dem Moment, in dem sie kam, so daß ich die voll aufbrandende, vulkanische Intensität ihrer Lust empfing. Ich fand keinen einzigen winzigen Gedanken an mich in ihr. Nur reine, animalische Ekstase, die von allen Nervenenden ausstrahlte. Das gleiche habe ich, vor und nach Toni, bei anderen Frauen oft erlebt: Wenn sie kamen, waren sie Inseln, allein in der Leere des Raums, einzig ihrer Körper bewußt und möglicherweise noch dieses Eindringlings, dieses starren Knüppels, gegen den sie anstießen. Wenn die Lust sie überwältigt, ist das ein sonderbar unpersönliches Phänomen, auch wenn es noch so titanisch ist. Ganz genauso war es bei Toni. Und ich hatte keine Einwände dagegen; ich wußte ja, was zu erwarten war, und fühlte mich weder betrogen noch zurückgestoßen. Im Gegenteil, die Vereinigung meiner Seele mit der ihren in diesem ungeheuerlichen Augenblick löste meinen eigenen Höhepunkt aus und verdreifachte seine Intensität. In derselben Sekunde verlor ich den Kontakt mit ihr.
Der Ausbruch eines Orgasmus zerreißt das zarte telepathische Band. Hinterher schämte ich mich ein bißchen, daß ich spioniert hatte, empfand aber keine großen Gewissensbisse. Wie wunderbar war es doch gewesen, in jenem Moment bei ihr zu sein! Ihre Lust nicht nur als automatische Spasmen ihrer Lenden zu empfinden, sondern als leuchtende, über das Dunkel ihrer Seele zuckende, flammende Blitze! Das war ein Augenblick der Schönheit und der Ehrfurcht, ein Phänomen, das ich niemals wieder vergessen konnte. Das aber auch nicht wiederholt werden durfte. Abermals beschloß ich, unsere Beziehung zueinander sauber und ehrlich zu gestalten. Sie nicht unfair auszunutzen. Von nun an nie wieder in ihre Gedanken einzudringen.
Und trotzdem tat ich es wenige Wochen später zum drittenmal. Ohne es zu wollen. Durch einen verdammten, grauenhaften Zufall. Oh, dieses dritte Mal!
Dieser Scheißdreck…
Dieses Desaster…
Diese Katastrophe…
9
Anfang Frühjahr 1945, als David zehn Jahre alt war, bestellten seine treusorgenden Eltern eine kleine Schwester für ihn. Genauso formulierten sie es: Seine Mutter schloß ihn mit ihrem liebevollsten, falschen Lächeln in die Arme, drückte ihn an sich und erzählte ihm in ihrem schönsten ›So-reden-wir-mit-gescheiten-Kindern‹-Ton: »Dad und ich haben eine Überraschung für dich, David. Wir haben dir eine kleine Schwester bestellt.«
Für ihn war es natürlich keine Überraschung. Seit Monaten, vielleicht seit Jahren schon hatten sie darüber diskutiert, immer in der irrigen Annahme, ihr Sohn, so aufgeweckt er auch war, könne nicht verstehen, wovon sie sprachen, sei nicht in der Lage, ein Konversationsfragment mit dem anderen in Verbindung zu bringen, sei unfähig, ihre vagen Pronomen durch die richtigen Ausdrücke zu ersetzen, ihre Flut von ›es‹ und ›er‹ richtig zu interpretieren. Er aber hatte selbstverständlich ihre Gedanken gelesen. In jenen Tagen war seine Gabe stark und klar; wenn er, von eselsohrigen Büchern und Briefmarkenalben umgeben, in seinem Zimmer lag, konnte er sich
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