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Es stirbt in mir

Es stirbt in mir

Titel: Es stirbt in mir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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David haßte sie vom ersten Moment an. Er hatte gefürchtet, sie würden sie in sein Zimmer stecken, aber nein, sie stellten ihr Bettchen in ihr eigenes; trotzdem füllte des nachts ihr Geschrei die ganze Wohnung – unaufhörlich, Plärren, Kreischen, Brüllen. Unglaublich, wieviel Krach so ein Winzling produzierte! Paul und Martha verbrachten praktisch all ihre Zeit damit, die Kleine zu füttern, mit ihr zu spielen und ihre Windeln zu wechseln, doch David störte das nicht weiter, denn so waren sie wenigstens beschäftigt und belästigten ihn nicht dauernd. Daß Judith überhaupt da war, störte ihn dagegen sehr. Er fand ihre molligen Ärmchen und Beinchen, das lockige Haar und die Grübchenwangen überhaupt nicht niedlich. Wenn er zusah, wie sie gewickelt wurde, begutachtete er mit akademischem Interesse ihren winzigen, rosa Schlitz, weil das eine neue Erfahrung für ihn war; sobald er das Phänomen jedoch studiert hätte, war seine Neugier auch schon gestillt. Okay, die haben ’n Schlitz statt ’n Zipfel. Na und? Ständig störte und irritierte sie ihn. Weil sie soviel Krach machte, konnte er nicht lesen, und lesen war sein einziges Vergnügen. Ewig wimmelte es in der Wohnung von Freunden und Verwandten, die sich das neue Baby ansehen wollten und deren dämliche Gedanken wie Hämmer auf Davids empfindliches Bewußtsein eintrommelten. Hin und wieder versuchte er, sich in die Gedanken des Babys vorzutasten, fand aber nichts als vage, verschwommene, formlose Ballungen dumpfer Empfindungen; sogar Hunde und Katzen waren ergiebiger. Alles, was er empfing, waren Eindrücke von Hunger, Schläfrigkeit und, wenn sie in die Windeln machte, gedämpften Orgasmen. Ungefähr zehn Tage; nach ihrer Ankunft versuchte er, sie telepathisch zu töten. Während seine Eltern zu tun hatten, schlich er leise in ihr Schlafzimmer, beugte sich über das Bett seiner Schwester und konzentrierte sich so stark er konnte auf die Aufgabe, ihren noch ungeformten Geist aus ihrem Schädel herauszuziehen. Wenn er es nur irgendwie schaffen würde, den Funken Intellekt aus ihr herauszusaugen, ihr Bewußtsein in sich aufzunehmen, sie in eine leere Hülle zu verwandeln, würde sie mit Sicherheit sterben. Er war bestrebt, seine Fänge in ihre Seele zu schlagen. Er starrte stur in ihre Augen, nahm seine ganze Kraft zusammen, zerrte und zog an ihren schwachen Ausstrahlungen. Komm… komm… dein Geist gleitet langsam auf mich zu… Ich nehme ihn in mich auf, ich nehme ihn ganz in mich auf… Jetzt! Jetzt habe ich deinen Geist gefangen! Ungeachtet seiner Beschwörungen fuhr sie jedoch fort, fröhlich zu gurgeln und mit den kleinen Ärmchen zu wedeln. Er starrte sie intensiver an, verdoppelte die Kraft seiner Konzentration. Ihr Lächeln zuckte und verschwand. Stirnrunzelnd zog sie die winzigen Brauen zusammen. Wußte sie jetzt, was er mit ihr machte, oder störten sie nur die Gesichter, die er schnitt? Komm… komm… dein Geist gleitet langsam auf mich zu …
    Sekundenlang glaubte er, Erfolg zu haben. Dann aber warf sie ihm einen eiskalten, bösartigen Blick zu, unvorstellbar finster, einfach erschreckend für ein Baby, und er wich, einen plötzlichen Gegenangriff fürchtend, unwillkürlich vor ihr zurück. Einen Augenblick später gurgelte sie schon wieder zufrieden vor sich hin. Sie hatte ihn besiegt. Er fuhr fort, sie zu hassen, versuchte aber nie wieder, ihr etwas anzutun. Als Judith alt genug war, um zu begreifen, was Haß war, merkte sie schnell, welche Gefühle ihr Bruder für sie hegte. Und haßte ihn ebenfalls. Nur erwies sie sich als weit geschicktere Hasserin als er. O Gott, eine Expertin im Hassen war sie!
10
    Das Thema dieses Kapitels ist: Mein allererster Acid-Trip.
    Mein erster und letzter, vor acht Jahren. Im Grunde war es gar nicht mein eigener Trip, sondern Tonis. Um die Wahrheit zu sagen: Lysergsäurediäthylamid ist nicht ein einziges Mal durch meine Verdauungskanäle gegangen. Was geschah, war, daß ich auf Tonis Trip als Trittbrettfahrer mitgereist bin. In gewissem Sinn reise ich auch heute noch auf jenem Trip mit, auf jenem furchtbaren Horrortrip. Warten Sie, ich erzähle es Ihnen.
    Es war im Sommer 1968. Der ganze Sommer in jenem Jahr war ein Horrortrip. Erinnern Sie sich an 1968? Das war das Jahr, in dem uns allen die Augen aufgingen, in dem wir erkannten, daß alles in Scherben fiel. Ich meine, die amerikanische Gesellschaft. Dieses allgegenwärtige Gefühl des Zerfalls und des unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruchs, das uns

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