Es stirbt in mir
bekommen, und wenn sie unbedingt ein zweites Kind wollten, sollten sie doch eins adoptieren. Er wußte, wie die traumatische Reaktion seines Vaters auf diesen Vorschlag gelautet hatte: Was – einen Bankert, den eine Schickse nicht haben will, in unser Haus holen? Wochenlang konnte der arme Paul nicht schlafen, wälzte sich Nacht für Nacht im Bett herum, ohne seiner Frau zu bekennen, warum er so sehr aufgewühlt war, vor seinem Sohn jedoch unbewußt seine Sorgen ausbreitend. Die Unsicherheit, die irrationale Feindseligkeit. Wieso verlangt man von mir, daß ich das Balg von einem Fremden aufziehe, nur weil ein Psychiater behauptet, das würde gut für David sein? Was für Gesindel nehme ich da in mein Haus auf? Wie kann ich dieses Kind lieben, wenn es nicht mein eigenes ist? Woher soll ich wissen, daß es ein jüdisches Kind ist? Es kann doch genausogut von einem Iren, einem italienischen Schuhputzer oder von einem Zimmermann stammen! Und das alles teilt sich David mit. Endlich macht Selig sen. seiner Frau von diesen Einwänden Mitteilung, sagt, sehr vorsichtig formuliert: Vielleicht irrt Hittner sich, vielleicht ist das nur eine Phase, die David gerade durchmacht, und ein zweites Kind ist gar keine Lösung. Bittet sie, die Unkosten zu bedenken, die Umstellungen in ihrer Lebensweise, die notwendig sein werden – sie sind nicht mehr jung, sie haben sich in ihren Gleisen festgefahren, ein Kind in ihrem Alter, morgens um vier aufstehen, das ewige Schreien, die schmutzigen Windeln. Und David feuert den Vater unhörbar an, denn wer will schon diesen Eindringling, dieses Geschwisterchen, diesen Feind des eigenen Friedens? Doch Martha widerspricht unter Tränen, zitiert Hittners Brief, liest Sätze aus ihrer umfangreichen Literatur über Kinderpsychologie vor, verweist auf vernichtende Statistiken über das Auftreten von Neurosen, schlechte Anpassungsfähigkeit, Bettnässen und Homosexualität bei Einzelkindern. Um Weihnachten ist der Alte weich. Okay, okay, wir adoptieren ein Kind, aber das erste, beste nehmen wir nicht, verstanden? Es muß auf jeden Fall ein Jude sein. Während der Winterwochen die Runde bei den Adoptionsagenturen, David gegenüber vorgebend, die ständigen Fahrten nach Manhattan seien unschuldige Einkaufsausflüge. Aber ihn konnte man nicht für dumm verkaufen. Er brauchte doch nur einen Blick hinter ihre Stirne zu tun, um sofort zu wissen, daß sie ein Geschwisterchen suchten. Seine einzige Hoffnung war, daß sie keins finden würden. Immerhin herrschte noch Krieg: Wenn man keine neuen Autos bekam, waren vielleicht auch Geschwisterchen knapp. Wochenlang sah es so aus, als hätte er mit seiner Vermutung recht. Es waren kaum Babys vorhanden, und diejenigen, die vorhanden waren, hatten alle den einen oder anderen Fehler: Entweder waren sie nicht jüdisch genug, oder zu zart, oder unruhig oder eben vom falschen Geschlecht. Ein paar Jungen waren verfügbar, Paul und Martha wollten jedoch ein Mädchen. Allein dieser Entschluß schränkte die Auswahl beträchtlich ein, da Mädchen weit seltener zur Adoption freigegeben werden; an einem verschneiten Abend im März jedoch entdeckte David in den Gedanken seiner eben von der Einkaufsreise zurückgekehrten Mutter eine unheildräuende Andeutung von Zufriedenheit und mußte, als er genauer forschte, einsehen, daß die Suche vorüber war. Sie hatten ein reizendes, vier Monate altes kleines Mädchen gefunden. Die Mutter, 19, war nicht nur erwiesenermaßen Volljüdin, sondern darüber hinaus ein College-Girl, von der Agentur als ›hochintelligent‹ beschrieben. Anscheinend jedoch nicht intelligent genug, um zu verhindern, daß sie von einem hübschen, jungen Air-Force-Captain, ebenfalls Jude, während seines Heimaturlaubs im Februar 1944 geschwängert wurde. Der Offizier, der seine Unvorsichtigkeit bereute, zeigte sich dennoch nicht bereit, das arme Opfer seiner Lust zu heiraten, und war zur Zeit im Pazifik stationiert, wo er, wenn es nach den Eltern des Mädchens gegangen wäre, zehnmal abgeschossen werden müßte. Sie hatten ihre Tochter gezwungen, das Kind zur Adoption freizugeben. Zunächst wunderte sich David, daß Martha das Baby nicht gleich mitgebracht hatte, erfuhr aber bald, daß erst noch endlose Formalitäten erledigt werden mußten, und so wurde es Mitte April, bis seine Mutter ihm verkündete: »Dad und ich haben eine Überraschung für dich, David!« Sie nannten das Kind nach der vor kurzem verstorbenen Mutter ihres Stiefvaters Judith Hannah Selig.
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