Es stirbt in mir
Lektoren zu schlafen. Aber mein eingefleischter Lauscherinstinkt verriet mir sehr schnell die wahre Sachlage. Ich tastete ihn flüchtig ab und stellte fest, daß seine Gedanken ein Jauchepfuhl frustrierter Sehnsucht nach ihr waren. Er begehrte sie heiß und innig, aber sie hatte anscheinend nichts für ihn übrig. Nun untersuchte ich ihre Gedanken. Ich tastete mich tief hinein und befand mich in warmem, weichem, tröstlichem Lehm. Rasch versuchte ich, mich zu orientieren. Autobiographische Fragmente, zusammenhanglos, alinear, stürmten auf mich ein: Scheidung, ein bißchen positiver Sex, ein bißchen negativer Sex, Collegezeit, eine Reise in die Karibik, alles ziemlich durcheinander. Bald schon stieß ich weiter vor und entdeckte, was ich suchte. Nein, sie schlief nicht mit dem Schriftsteller. Körperlich bedeutete er ihr überhaupt nichts. (Seltsam. Für mich war er ein attraktiver, romantischer und anziehender Mann, jedenfalls, soweit ein hoffnungslos heterosexueller Mensch wie ich das beurteilen kann.) Ich erfuhr, daß sie nicht einmal seine Arbeit mochte. Dann jedoch, als ich weitersuchte, erfuhr ich etwas anderes, etwas weit Erstaunlicheres: Ich schien eine gewisse Wirkung auf sie auszuüben. Ich vernahm den deutlichen Gedanken: Ob er heute abend Zeit hat? Sie betrachtete den alternden Rechercheur, volle 33 Jahre alt und auf dem Kopf schon ein wenig kahl, und fand ihn keineswegs abstoßend. Diese Entdeckung erschütterte mich so – all dieser dunkeläugige Glamour, diese langbeinige Sexiness, auf mich gerichtet! –, daß ich mich hastig aus ihren Gedanken zurückzog. »Das hier sind die Truman-Berichte«, sagte ich zu meinem Brotgeber. »Von der Truman Library in Missouri kommt morgen aber noch mehr.« Wir unterhielten uns ein Weilchen über den nächsten Auftrag, den er für mich hatte, und dann verabschiedete ich mich. Mit einem schnellen, verstohlenen Blick auf sie.
»Warten Sie!« sagte sie. »Wir können zusammen hinunterfahren. Ich bin auch gleich hier fertig.«
Der Schreiberling warf mir einen neiderfüllten, giftigen Blick zu. Mein Gott, wirklich schon wieder entlassen? Aber er sagte uns höflich auf Wiedersehen. Im Lift standen wir weit voneinander entfernt, Toni in der einen, ich in der anderen Ecke. Eine bebende Mauer aus Spannung und Sehnsucht trennte und vereinte uns zugleich. Ich gab mir Mühe, nicht in ihren Gedanken zu lesen; ich fürchtete mich, fürchtete mich entsetzlich – nicht davor, daß ich die falsche, sondern daß ich die richtige Antwort bekam. Auch auf der Straße standen wir, einen Augenblick zögernd, weit voneinander entfernt. Schließlich sagte ich, daß ich ein Taxi zur Upper West Side nehmen wolle – ich, bei 85 Dollar die Woche, ein Taxi! –, und ob ich sie irgendwo absetzen könne? Sie antwortete, sie wohne in der West End Avenue in Höhe der 105th Street. Ziemlich nah. Als das Taxi vor ihrem Haus hielt, lud sie mich auf einen Drink zu sich ein. Drei Zimmer, unpersönlich eingerichtet: fast nur Bücher, Schallplatten, Posters. Sie schenkte uns zwei Gläser Wein ein, ich packte sie, zog sie herum und küßte sie. An mich geschmiegt, zitterte sie. Oder war ich es, der zitterte?
Bei einer Suppe im Great Shanghai, ein bißchen später am selben Abend, sagte sie, daß sie in zwei Tagen ausziehen müsse. Die Wohnung gehöre ihrem Mitbewohner, mit dem sie vor drei Tagen Schluß gemacht habe. Sie wisse nicht, wo sie bleiben solle. »Ich habe zwar nur ein schäbiges Zimmer«, erwiderte ich, »aber ich habe ein Doppelbett.« Scheues Grinsen, bei mir, bei ihr. So zog sie ein. Ich glaubte nicht, daß sie mich liebte, ganz und gar nicht, aber ich wollte sie nicht fragen. Falls ihr Gefühl für mich nicht Liebe war, dann war es trotzdem gut genug, das Beste, worauf ich hoffen konnte; und tief in mir spürte ich meine Liebe zu ihr. Sie hatte einen sicheren Hafen im Sturm gebraucht. Ich hatte ihr zufällig einen geboten. Wenn das alles war, was ich ihr im Augenblick bedeutete – nun gut. Wir hatten Zeit genug, die Dinge reifen zu lassen.
In den ersten beiden Wochen kamen wir nur wenig zum Schlafen. Nicht, weil wir ununterbrochen gevögelt hätten, obwohl das keineswegs zu kurz kam. Nein, wir redeten. Wir waren neu füreinander, und das ist immer die beste Zeit einer Beziehung, da gibt es ganze Vergangenheiten miteinander zu teilen, da strömt alles aus einem heraus, und man braucht nie zu überlegen, was man denn eigentlich sagen soll. (Nein, nicht wirklich alles strömte heraus.
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