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Es stirbt in mir

Es stirbt in mir

Titel: Es stirbt in mir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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mühelos in alles einschalten, was fünfzig Fuß entfernt hinter ihrer geschlossenen Tür vorging. Es war wie eine endlose Rundfunksendung, ohne Werbespots. Er konnte WJZ, WHN, WEAF oder WOR hören, alle Stationen auf der Skala, zumeist aber hörte er nur WPMS – Paul-und-Martha-Selig. Sie hatten keine Geheimnisse vor ihm. Er schämte sich seines Spionierens nicht. Mehr als außergewöhnlich frühreif, eingeweiht in all ihre Heimlichkeiten beobachtete er tagtäglich die ungeschminkten Einzelheiten des Ehelebens: die Geldsorgen, die Augenblicke zärtlicher, vorbehaltloser Liebe, die Augenblicke schuldbewußt unterdrückten Hasses auf die lästige, ewig gleiche Ehehälfte, die Freuden und Leiden der Kopulation, die Harmonie und Disharmonie, die Geheimnisse unerreichter Orgasmen und erschlaffender Erektionen, die angestrengte und erschreckend eingleisige Konzentration auf das Wachstum und die richtige Entwicklung ›Unseres Kindes‹. Ihren Gehirnen entströmte ein steter Fluß dicken, Teich quellenden Schaums, den er bis auf den letzten Rest aufsog. In ihren Gedanken zu lesen war sein Spiel, sein Spielzeug, seine Religion, seine Rache. Sie ahnten nicht, daß er es tat. Das war ein Punkt, für den er ununterbrochen Bestätigung suchte, Bestätigung forderte und fand: Nicht im Traum hätten sie gedacht, daß er diese Gabe besitzen könnte. Sie hielten ihn lediglich für überdurchschnittlich intelligent und fragten niemals nach den Quellen, aus denen er soviel über so viele unwahrscheinliche Dinge erfuhr. Hätten sie die Wahrheit erkannt, hätten sie ihn vielleicht in seinem Kinderbett erwürgt. Aber sie hatten nicht die geringste Ahnung. Also spionierte er in aller Ruhe, Jahr um Jahr, und je mehr er von dem Material begriff, das seine Eltern ihm unbewußt vermittelten, um so tiefer wurden seine Erkenntnisse.
    Er wußte, daß Dr. Hittner – völlig hilflos diesem seltsamen kleinen Selig gegenüber – es für besser hielt, wenn David ein Geschwisterchen bekam. Das war der Ausdruck, den er gebrauchte, Geschwisterchen, so daß David die Bedeutung erst in Hittners Kopf wie in einem Lexikon suchen mußte. Geschwisterchen: kleiner Bruder oder kleine Schwester. Dieser feige, pferdegesichtige Verräter! Das einzige, was David von ihm erbeten hatte, war die Zusicherung, seinen Eltern nicht diesen Vorschlag zu machen, und nun hatte er ihn doch gemacht. Aber was konnte man schon von dem Kerl erwarten? Daß ein Geschwisterchen wünschenswert war, dieser Gedanke hatte die ganze Zeit wie ein Zeitzünder in Hittners Kopf gesteckt. Und als David eines abends die Gedanken seiner Mutter erforschte, fand er den Text eines Briefes an Hittner. ›Das Einzelkind ist emotionell immer benachteiligt. Ohne den Zwang, sich gegen andere Geschwister durchsetzen zu müssen, hat es keine Möglichkeit, die besten Methoden für das Zusammenleben mit seinen Altersgenossen zu lernen und entwickelt eine gefährlich belastende Beziehung zu seinen Eltern, für die es eher ein Gleichberechtigter als ein Abhängiger sein wird.‹ Hittners Allheilmittel dagegen: möglichst viele Geschwisterchen. Dieser Trottel. Als ob es in großen Familien keine Neurotiker gäbe!
    David nahm an den hektischen Versuchen seiner Eltern, Dr. Hittners Forderung zu erfüllen, unweigerlich teil. Nicht mehr viel Zeit; der Junge wird immer älter, geschwisterlos, immer noch ohne die Möglichkeit, die besten Methoden für das Zusammenleben mit seinen Altersgenossen zu lernen. Nacht für Nacht schlugen sich die armen, alternden Körper von Paul und Martha Selig mit diesem fast unlösbaren Problem herum. Schweißüberströmt zwangen sie sich zu selbstzerstörerischen Wundertaten der Lust, und pünktlich verkündete in jedem Monat ein Strom von Blut: wieder einmal kein Geschwisterchen. Endlich jedoch schlägt der Same Wurzel. David sagten sie nichts davon; vielleicht schämten sie sich, einem Achtjährigen eingestehen zu müssen, daß es in ihrem Leben so etwas wie Geschlechtsverkehr gab. Aber er wußte genau Bescheid. Er wußte, warum der Bauch seiner Mutter größer wurde und warum sie immer noch zögerten, ihm eine Erklärung dafür zu geben. Er wußte auch, daß die geheimnisvolle ›Blinddarmentzündung‹ seiner Mutter im Juli 1944 in Wirklichkeit eine Fehlgeburt war. Er wußte, warum sie noch monatelang danach mit langen, traurigen Gesichtern herumliefen. Er wußte, daß Marthas Doktor ihr in jenem Herbst erklärt hatte, es sei wirklich nicht gut, mit 35 Jahren noch ein Baby zu

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