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Es stirbt in mir

Es stirbt in mir

Titel: Es stirbt in mir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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allen so vertraut ist, das stammt, glaube ich, aus dem Jahr 1968. Als die Welt um uns herum zu einer Metapher für die zunehmende Entropie der Gewalt wurde, die sich schon seit einiger Zeit in unseren Seelen – in meiner wenigstens – bemerkbar machte.
    In jenem Sommer saß Lyndon Baines MacBird noch im Weißen Haus, das heißt, er saß die Zeit von seiner Abdankung im März bis zum Ende seiner Präsidentschaft ab. Bobby Kennedy hatte endlich doch noch die Kugel bekommen, die seinen Namen trug, genauso wie vor ihm Martin Luther King. Keiner der beiden Morde kam überraschend; die einzige Überraschung bestand darin, daß sie so lange auf sich warten ließen. Die Schwarzen brannten die Städte nieder: Damals waren es ihre eigenen Stadtviertel. Stinknormale, alltägliche Leute warfen sich sogar zur Arbeit in seltsame Gewänder, in ausgestellte Hosen, taillierte Hemden und Superminiröcke, und die Haare wurden auch bei den über Fünfundzwanzigjährigen immer länger. Es war das Jahr der Koteletten und Buffalo-Bill-Schnauzbärte. Gene McCarthy, Senator von – ja, wo? Minnesota? Wisconsin? – zitierte im Verlauf seiner Bemühungen, zum Präsidentschaftskandidaten der Demokraten ernannt zu werden, auf Pressekonferenzen Gedichte, aber es stand praktisch außer Zweifel, daß die Partei auf ihrem Parteitag in Chicago Hubert Horatio Humphrey wählen würde. (Mein Gott, war dieser Parteitag eine Demonstration von amerikanischem Patriotismus!) Im anderen Lager bemühte sich Rockefeller, Tricky Dick einzuholen, doch jeder wußte, daß er es niemals schaffen würde. In einem Land namens Biafra, an das Sie sich sicher nicht mehr erinnern werden, starben Babys an Unterernährung, und die Russen schickten Truppen in die Tschechoslowakei, um wieder einmal die Einigkeit der sozialistischen Länder zu beweisen. In einem Land namens Vietnam, an das Sie sich sicher nicht gern erinnern, warfen wir zur Erhaltung des Friedens und der Demokratie auf alles, was lebte, Napalmbomben, und Lieutenant William Calley hatte kurz zuvor in der Ortschaft Mylai die Liquidierung von über hundert finsteren und gefährlichen Greisen, Frauen und Kindern organisiert, ein Ereignis, von dem wir zu jenem Zeitpunkt noch nichts wußten. Alle Welt las Bücher wie Ehepaare, Myra Breckinridge, Die Bekenntnisse des Nat Turner und The Money Game. An die Filme in jenem Jahr kann ich mich nicht mehr genau erinnern. Easy Rider gab es noch nicht, Die Reifeprüfung war im Jahr zuvor. Vielleicht war es das Jahr von Rosemarys Baby. Ja, das klingt logisch: 1968 war eindeutig ein Teufelsjahr. Darüber hinaus war es das Jahr, in dem eine ganze Anzahl Angehöriger der Mittelklasse mittleren Alters, zuerst ein bißchen verschämt und schüchtern, Ausdrücke wie ›Pot‹ und ›Gras‹ zu gebrauchen begannen, die alle ›Marihuana‹ bedeuteten. Einige sprachen nicht nur davon, sondern rauchten es sogar. (Ich. Angetörnt im reifen Alter von 33.) Warten Sie mal, was noch? Präsident Johnson ernannte Abe Fortas an Earl Warrens Stelle zum Chief Justice des Supreme Court. Chief Justice Fortas, wo bist du jetzt, da wir dich brauchen? Die Pariser Friedensgespräche hatten, ob Sie es glauben oder nicht, in jenem Sommer gerade begonnen. In späteren Jahren hatte man das Gefühl, daß diese Gespräche seit Anbeginn aller Zeit geführt worden waren, ewig und endlos wie der Grand Canyon und die Republikanische Partei, aber nein, sie wurden erst 1968 erfunden. Ja, so ein Jahr war das. Himmel, ich habe ja ein überaus wichtiges geschichtliches Ereignis vergessen! Im Frühjahr 1968 kam es zu den Unruhen an der Columbia University, als radikale Studenten den Campus besetzten, Vorlesungen ausfielen, Abschlußprüfungen abgesagt wurden und allmählich Scharmützel mit der Polizei ausgefochten wurden, in deren Verlauf eine beträchtliche Anzahl Studentenschädel angeknackst wurde und eine beträchtliche Menge erstklassiges Blut in die Gossen rann. Wie merkwürdig, daß mir diese Ereignisse völlig entfallen sind, obwohl ich von all den hier aufgeführten Dingen nur an diesem einen persönlich teilnahm! An der Ecke Broadway/116th Street stand und zusah, wie Polizeieinheiten mit grimmigen Mienen auf die Butler Library vorrückten. (Damals nannten wir die Polizei ›Fuzz‹, etwas später im selben Jahr dann ›Pigs‹.) Meine Hand hob, das V für Sieg-Zeichen machte und mit den anderen idiotische Parolen intonierte. Mich in der Furnard Hall versteckte, während die Gummiknüppel-Brigade in den

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