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Es stirbt in mir

Es stirbt in mir

Titel: Es stirbt in mir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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Stück Löschpapier. Wir taten, als wäre es nicht vorhanden. Toni wirkte ein bißchen beklommen; ich weiß nicht, ob es immer noch meine Weigerung war, mitzumachen, was sie bedrückte, oder ob sie jetzt, unmittelbar davor, doch ein bißchen Angst vor dem Trip hatte. Wir sprachen nicht viel. Sie füllte den Aschenbecher mit einem Berg halb gerauchter Zigaretten. Von Zeit zu Zeit grinste sie nervös. Von Zeit zu Zeit ergriff ich ihre Hand und lächelte ihr aufmunternd zu. Während der ganzen rührenden Szene kamen und gingen alle möglichen Hotelbewohner, mit denen wir die Küche auf diesem Stock teilten. Zuerst Eloise, das schwarze Strichmädchen. Dann Miß Theotokis, die grimmige Krankenschwester, die in St. Luke arbeitete. Mr. Wong, der geheimnisvolle, rundliche Chinese, der immer in der Unterwäsche herumlief. Aitken, der schwule Gelehrtentyp aus Toledo und sein Zimmergenosse, ein leichenblasser Schießer namens Donaldson. Einige von ihnen nickten uns zu, gesagt aber wurde kein einziges Wort, nicht einmal ein ›Guten Morgen‹. Hier tat man immer so, als seien die Nachbarn nicht vorhanden. Die gute, alte Tradition von New York. Um ungefähr halb elf sagte Toni dann: »Holst du mir bitte einen Orangensaft?« Ich schenkte aus dem Behälter im Kühlschrank ein, auf dem ein Schild mit meinem Namen klebte, und gab ihr das Glas. Augenzwinkernd, mit breitem Lächeln, allen Mut zusammennehmend, knüllte sie das Löschpapier zusammen, schob es sich in den Mund und trank Orangensaft hinterher.
    »Wie lange dauert es, bis es wirkt?« fragte ich.
    »Ungefähr anderthalb Stunden«, antwortete sie.
    Es dauerte eher fünfzig Minuten. Wir waren wieder in unserem Zimmer, hatten die Tür abgeschlossen und versuchten zu lesen. Das Koffergrammophon produzierte verkratzten Bach. Plötzlich blickte Toni auf. »Jetzt wird mir ein bißchen komisch«, sagte sie.
    »Wie denn – komisch?«
    »Schwindlig. Ein bißchen übel. Und im Nacken prickelt es.«
    »Möchtest du was zu trinken? Wasser? Orangensaft?«
    »Nein, danke. Ist schon alles in Ordnung.« Ein Lächeln, zaghaft, aber echt. Sie schien ein wenig besorgt zu sein, aber keineswegs hatte sie Angst. Sie freute sich auf die Reise. Ich legte mein Buch hin und beobachtete sie aufmerksam; ich fühlte mich wie ihr Beschützer, wünschte beinahe, daß ich Gelegenheit hätte, ihr irgendwie zu helfen. Ich wollte zwar nicht, daß sie einen miesen Trip hatte, aber ich hätte es gern gesehen, wenn sie mich gebraucht hätte.
    Sie berichtete mir laufend von den Wirkungen der Droge auf ihr Nervensystem. Ich machte mir Notizen, bis sie erklärte, das Kratzen des Kugelschreibers auf dem Papier störe sie. Allmählich setzten visuelle Phänomene ein. Die Wände schienen ihr ganz leicht konkav, die Unregelmäßigkeiten des Verputzes nahmen eine ungewöhnliche Struktur und Form an. Alle Farben waren unnatürlich grell. Die Sonnenstrahlen, die zu dem schmutzigen Fenster hereindrangen, waren wie Prismen und warfen Splitter des Regenbogenspektrums auf den Fußboden. Die Musik – ich hatte einen Stoß ihrer Lieblingsplatten auf den Wechsler gelegt – schien eine sonderbare, ganz neue Intensität anzunehmen; Toni hatte Schwierigkeiten, den Melodien zu folgen, und sie hatte das Gefühl, der Plattenteller bliebe immer wieder einmal stehen, aber die Musik an sich besaß eine unbeschreibliche Dichte und Stofflichkeit, die sie ungeheuer faszinierte. In ihren Ohren aber rauschte es auch, als streiche Luft an ihren Wangen vorbei. Sie sprach von einem alles durchdringenden Gefühl der Fremdartigkeit – »Ich bin auf einem anderen Planeten«, sagte sie zweimal. Ihr Gesicht war gerötet, ihre Miene aufgeregt, aber glücklich. Wenn ich an die grauenvollen Geschichten dachte, Berichte von durch Drogen ausgelöste Höllenfahrten, von Horrortrips, von fleißigen anonymen Journalisten der Zeitschriften Time und Life liebevoll bis in die kleinsten Details beschrieben, weinte ich beinahe vor Erleichterung angesichts dieser Beweise dafür, daß meine Toni ihre Reise unbeschadet überstehen würde. Anfangs hatte ich das Schlimmste befürchtet, aber es schien alles in Ordnung zu sein. Ihre Augen waren geschlossen, ihr Gesicht war ruhig und gelöst, ihr Atem ging tief und völlig entspannt. Meine Toni schwebte in transzendentalen Regionen des Mysteriums. Inzwischen sprach sie auch fast nicht mehr und brach ihr Schweigen höchstens alle paar Minuten, um etwas kaum Verständliches vor sich hinzumurmeln. Eine halbe Stunde war

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