Es stirbt in mir
mentalen Rezeptoren stellen die Funktion ein. Das ist eine ganz neue Erfahrung für mich, eine sehr sonderbare, dieses Phänomen des Ausschaltens bei Überbelastung. Es ist, als fielen meine Glieder ab, die Ohren, die Eier, alles, was überflüssig ist, so daß nur noch der glatte Torso bleibt. Der Input hört auf, der Geist Yahya Lumumbas zieht sich zurück, wird unerreichbar für mich, und ich durchlebe unversehens den umgekehrten Prozeß des Eindringens, bis ich nur noch seine oberflächlichen Emanationen auffange, dann nicht einmal mehr diese, so daß nur noch ein graues, pelziges Etwas seine Anwesenheit markiert. Alles ist vage. Alles gedämpft. BOUM. Wir sind wieder dort angelangt. Meine Ohren klingen: ein Artefakt der plötzlichen Stille, eine Stille, lauter als Donner. Ein neues Stadium auf meinem Weg abwärts. Noch nie habe ich so den Halt verloren, noch nie bin ich so aus einem Geist herausgerutscht. Benommen, erschüttert blicke ich auf. Yahya Lumumbas Lippen pressen sich fest aufeinander; voll Abscheu, aber ohne eine Ahnung dessen, was geschehen ist, starrt er auf mich herab. Kraftlos sage ich: »Sie müssen zehn Dollar im voraus zahlen. Den Rest, wenn ich die Arbeit abliefere.« Er antwortet kalt, er könne mir heute kein Geld geben. Sein nächster Stipendiumsscheck treffe erst Anfang kommenden Monats ein. Ich müsse eben Vertrauen zu ihm haben, sagt er. »Können Sie mir wenigstens fünf geben?« frage ich. »Als Anzahlung.« Wütend funkelt er mich an. Richtet sich zu seiner ganzen Höhe auf, wirkt mindestens zwei Meter groß. Wortlos nimmt er einen Fünfdollarschein aus seiner Brieftasche, knüllt ihn zusammen und wirft ihn mir verächtlich in den Schoß. »Am 9. November vormittags bin ich hier«, rufe ich hinter ihm her. Euripides, Sophokles, Aischylos. Zitternd vor Bestürzung sitze ich da, lausche dieser donnernden Stille. BOUM. BOUM. BOUM.
12
In seinen akut ausgeprägt Dostojewskijschen Momenten war David Selig eher geneigt, seine Gabe als einen Fluch zu empfinden, als eine harte Strafe für irgendeine unvorstellbare Sünde. Vielleicht als Kainszeichen. Gewiß, seine Fähigkeit hatte ihm schon viel Kummer gemacht, in seinen lichteren Momenten jedoch war ihm klar, daß er sich, wenn er sie als ›Fluch‹ bezeichnete, lediglich in melodramatischem Selbstmitleid erging. Seine Gabe war eine göttliche Gnade. Die Gabe schenkte ihm Ekstase. Ohne die Gabe war er nichts, eine Null, ein schmendrick; mit ihr war er ein Gott. Ist das ein Fluch? Ist das so schrecklich? Einmal, wenn Gamet auf Gamet trifft, geschieht etwas Ungewöhnliches, und das Schicksal schreit: Hallo, du Selig-Baby, du sollst ein Gott sein! Wer würde so etwas zurückweisen? Sophokles soll, 88 Jahre alt oder so, seiner Erleichterung darüber Ausdruck verliehen haben, dem Zwang seiner physischen Leidenschaften entronnen zu sein. Endlich habe ich mich eines tyrannischen Herrn und Meisters entledigt, sagte der weise und sehr glückliche Sophokles. Dürfen wir also annehmen, daß Sophokles, hätte Zeus ihm rückwirkend die Chance gegeben, seinen Lebenslauf zu ändern, sich für lebenslange Impotenz entschieden hätte? Mach dir nichts vor, David: Ganz gleich wie schlimm die Telepathie sich bei dir ausgewirkt hat – und sie hat sich ziemlich schlimm ausgewirkt –, du hättest nicht eine Minute ohne sie leben wollen. Weil diese Gabe dir die Ekstase geschenkt hat.
Die Gabe schenkte ihm Ekstase. Das ist die ganze Chose in wenigen, knappen Worten. Die Sterblichen werden in ein Tal der Tränen hineingeboren und holen sich ihren Nervenkitzel, wo sie können. Manche sehen sich gezwungen, auf ihrer Suche nach Vergnügen, Zuflucht zu Sex, Drogen, Schnaps, Fernsehen, Kino, Pinokel der Börse, dem Rennplatz, dem Roulette, Peitschen und Ketten, dem Sammeln von Erstausgaben, Kreuzfahrten in der Karibik, chinesischen Schnupfdosen, angelsächsischer Poesie, Gummibekleidung Profi-Football und so weiter zu nehmen. Nicht so er, nicht der fluchbeladene David Selig. Der brauchte sich bloß hinzusetzen, seinen Geist weit aufzumachen und die Gedankenwellen, die das telepathische Lüftchen zu ihm herwehte, in sich aufzunehmen. Mühelos lebte er hundert Leben aus zweiter Hand. In seiner Schatzkammer hortete er die Beute von tausend Seelen. Ekstase. Aber das mit der Ekstase lag natürlich schon einige Zeit zurück.
Die besten Jahre waren die zwischen vierzehn und fünfundzwanzig; Vorher war er noch zu naiv, zu ungeformt gewesen, um die Daten, die er empfing, so
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