Es stirbt in mir
Bücherregale aus roten Ziegeln, billige Drucke und wachsvertropfte Chiantiflaschen einerseits; Ledercouches, Hopi-Töpferei, psychedelische Seidenschirme, Rauchtische mit Glasplatten und überdimensionale eingetopfte Kakteen andererseits. Aus den Tausend-Dollar-Lautsprechern rieseln Bachs Cembalosonaten. Der Fußboden schimmert ebenholzschwarz und spiegelblank zwischen dicken, flauschigen Teppichen hervor. Eine Wand ist von zerlesenen Paperbacks bedeckt. An der anderen stehen zwei rohe, ungeöffnete Holzkisten: soeben eingetroffener Wein von ihrem Winzer. Meine Schwester führt ein gutes Leben. Gut und elend.
Der Kleine mustert mich mißtrauisch. Er sitzt sieben Meter von mir entfernt am Fenster und beschäftigt sich mit einem komplizierten Plastikspielzeug, läßt mich dabei aber nicht aus den Augen. Ein dunkles Kind, schlank und sehnig wie seine Mutter, aber auch überheblich und eiskalt. Zwischen uns ist keine Liebe verloren: Ich bin in seinem Kopf gewesen und weiß genau, was er über mich denkt. Für ihn bin ich einer der vielen Männer im Leben seiner Mutter, unterscheide mich als richtiger Onkel kaum von den zahllosen Onkel-Surrogaten, die immer wieder hier nächtigen; wahrscheinlich hält er mich für einen ihrer Liebhaber, der eben nur etwas häufiger auftaucht als die anderen. Ein begreiflicher Irrtum. Doch während er die anderen lediglich deswegen nicht mag, weil sie ihm ihre Liebe wegnehmen könnten, verabscheut er mich, weil er glaubt, ich hätte seiner Mutter Schmerz zugefügt; er haßt mich um ihretwillen. Wie klug er dieses jahrzehntealte Netzwerk von Feindseligkeiten und Spannungen erfaßt hat, das mein Verhältnis zu Judith kennzeichnet! Ich bin also sein Feind. Wenn er könnte, würde er mir den Bauch aufschlitzen.
Ich trinke meinen Rum, höre Bach, lächle dem Kleinen unaufrichtig zu und genieße den Duft der entstehenden Spaghettisauce. Meine Gabe ist so gut wie stumm. Wenn ich hier bin, gebe ich mir Mühe, sie nicht soviel anzuwenden, und außerdem ist sie heute nur sehr schwach. Nach einer Weile kommt Judith aus der Küche, wirft einen Blick ins Wohnzimmer und sagt: »Komm, Dav, unterhalt dich ein bißchen mit mir, während ich mich anziehe.« Ich folge ihr ins Schlafzimmer und setze mich auf ihr Bett; sie nimmt ihre Sachen mit ins angrenzende Badezimmer und läßt die Tür nur einen Spaltbreit offen. Als ich sie zum letztenmal nackt gesehen habe, war sie sieben Jahre alt. »Ich freue mich, daß du gekommen bist«, sagt sie.
»Ich auch, Jude.«
»Du siehst ziemlich elend aus.«
»Nur, weil ich Hunger habe.«
»Dem werden wir in fünf Minuten abhelfen.« Wasser rauscht. Sie sagt noch etwas, aber das Rauschen übertönt ihre Stimme. Ich sehe mich müßig im Schlafzimmer um. Ein weißes Herrenhemd, viel zu groß für meine Schwester, hängt am Türknauf des Einbauschranks. Auf dem Nachttisch liegen zwei dicke lehrbuchähnliche Schwarten: Analytical Neuroendocrinology und Studies in the Physiology of Thermoregulation. Kaum die richtige Lektüre für Judith. Vielleicht hat sie den Auftrag, die Dinger ins Französische zu übersetzen. Mir fällt auf, daß beide Exemplare nagelneu sind, obwohl das eine 1964, das andere 1969 erschienen ist. Beide stammen vom selben Autor: K. F. Silvestri, M. D. Ph. D.
»Studierst du jetzt etwa Medizin?« fragte ich sie.
»Wegen der Bücher, meinst du? Die sind von Karl.«
Karl? Ein neuer Name. Dr. Karl F. Silvestri. Vorsichtig strecke ich meine Fühler aus und finde in ihrem Geist sein Bild: ein hochgewachsener, kräftiger Mann mit nüchternem Gesicht, breiten Schultern, starkem Grübchenkinn, wehender grauer Mähne. Ungefähr fünfzig, würde ich sagen. Judith mag ältere Männer. Während ich ihre Gedanken lese, erzählt sie mir einiges von ihm. Ihr augenblicklicher ›Freund‹, der bisher letzte ›Onkel‹ des Kleinen. Ein großes Tier am Columbia Medical Center, eine Kapazität auf dem Gebiet des menschlichen Körpers. Ihres Körpers eingeschlossen, nehme ich an. Nach 25 Jahren Ehe frisch geschieden. Ja, sie hat es gern, wenn ihre Männer gerade eine Enttäuschung hinter sich haben. Sie haben sich drei Wochen zuvor durch einen gemeinsamen Freund, einen Analytiker, kennengelernt. Gesehen haben sie sich bis jetzt nur vier, fünf Mal; er hat immer sehr viel zu tun, Ausschußsitzungen in diesem oder jenem Krankenhaus, Seminare, Konsultationen. Es ist noch nicht lange her, daß Judith mir berichtet hat, sie sei augenblicklich zwischen zwei Männern, wolle
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