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Es stirbt in mir

Es stirbt in mir

Titel: Es stirbt in mir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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voraussichtlich überhaupt nichts mehr von Männern wissen. Quod erat demonstrandum. Wenn sie seine Bücher zu lesen versucht, muß es eine ernste Angelegenheit sein. Mir kommen sie vor wie böhmische Dörfer, lauter Graphiken und statistische Tabellen, strotzend von lateinischer Fachterminologie.
    Als sie aus dem Bad kommt, trägt sie einen eleganten, purpurfarbenen Hosenanzug und die Bergkristallohrringe, die ich ihr zum 29. Geburtstag geschenkt habe. Wenn ich komme, gibt sie sich jedesmal Mühe, mit einem kleinen, sentimentalen Glanzlicht unsere Zusammengehörigkeit zu betonen; heute abend sind es die Ohrringe. Unsere Freundschaft besitzt heutzutage einen ausgesprochenen rekonvaleszenten Charakter; auf Zehenspitzen tasten wir uns durch den Garten, in dem unser alter Haß begraben liegt. Wir umarmen uns – wie Bruder und Schwester. Ein erlesenes Parfüm. »Hallo!« sagt sie. »Tut mir leid, daß ich so fürchterlich aussah, als du kamst.«
    »Meine Schuld. Ich bin zu früh gekommen. Außerdem hast du keineswegs fürchterlich ausgesehen.«
    Sie führt mich ins Wohnzimmer. Judith hält sich ausgezeichnet. Sie ist eine sehr hübsche Frau, groß, überschlank, ein wenig exotisch mit ihrem dunklen Haar, der bräunlichen Haut und den ausgeprägten Wangenknochen. Der magere, erotische Typ. Die Männer halten sie wahrscheinlich für sehr sexy, um ihre dünnen Lippen und ihre flinken, glänzend-braunen Augen jedoch liegt ein Zug von Grausamkeit, der in diesen Jahren der Scheidung und der Unzufriedenheit noch ausgeprägter geworden ist und die Menschen abschreckt. Sie hat dutzend-, massenweise Liebhaber gehabt, Liebe an sich wohl aber kaum. Du und ich, Schwesterchen, du und ich. Beide aus dem gleichen Holz.
    Sie deckt den Tisch. »Ich muß jetzt nach dem Essen sehen. Würdest du inzwischen Wein einschenken?«
    Sie geht in die Küche. Ich schenke ein; dann hole ich die Salatschüssel und stelle sie auf den Tisch. Hinter meinem Rücken plärrt der Kleine verachtungsvoll mit seiner unkindlichen Baritonstimme sinnlose Silben. Sogar in meinem gegenwärtigen Zustand der herabgesetzten Wahrnehmungsfähigkeit spüre ich den kalten Haß des Kleinen wie einen Druck an meinem Hinterkopf. Judith kommt wieder, schleppt ein Tablett herein: Spaghetti, Knoblauchbrot, Käse. Als wir uns setzen, lächelt sie mir herzlich zu; das Lächeln ist offenbar aufrichtig. Wir stoßen mit den Weingläsern an. Minutenlang essen wir schweigend. Ich lobe die Spaghetti. Dann sagt sie schließlich: »Dav, darf ich mal deine Gedanken lesen?«
    »Bitte sehr.«
    »Du behauptest, du seist froh, daß deine Gabe nachläßt. Wem willst du eigentlich was vormachen? Mir oder dir selbst? Denn was du da sagst, stimmt einfach nicht. Du willst sie gar nicht gern verlieren, stimmt’s?«
    »Ein bißchen.«
    »Nein, ganz und gar, Dav.«
    »Na schön, ganz und gar. Ich weiß nicht, was ich will. Ich möchte, daß sie ganz verschwindet. Mein Gott, ich wünschte, ich hätte sie niemals besessen! Andererseits aber, wenn ich sie verliere – wer bin ich dann? Wo ist meine Identität? Ich bin Selig, der Gedankenleser, nicht wahr? Der Erstaunliche, Mediale. Wenn ich der also nicht mehr bin… begreifst du jetzt, Jude?«
    »Ja, ich begreife. Der Schmerz darüber steht dir im Gesicht geschrieben. Es tut mir leid, Dav.«
    »Was tut dir leid?«
    »Daß du sie verlierst.«
    »Früher hast du mich dafür gehaßt, daß ich sie bei dir angewandt habe, hast du das vergessen?«
    »Das ist was anderes. Das ist lange her. Ich weiß, was du jetzt durchmachst, Dav. Hast du eine Ahnung, warum sie verschwindet?«
    »Nein. Wahrscheinlich eine Alterserscheinung.«
    »Könnte man irgend etwas tun, damit sie nicht ganz verschwindet?«
    »Ich glaube nicht, Jude. Ich weiß ja nicht mal, warum ich die Gabe überhaupt besitze, woher soll ich dann wissen, wie man sie am Leben erhalten kann. Ich habe keine Ahnung, wie sie funktioniert. Sie ist einfach etwas in meinem Kopf, ein genetischer Zufall, ein angeborenes Charakteristikum. Wie Sommersprossen. Wenn deine Sommersprossen verblassen, wüßtest du, wie man das verhindern kann, falls du sie behalten willst?«
    »Du hast dich nie wissenschaftlich untersuchen lassen, nicht wahr?«
    »Nein.«
    »Warum nicht?«
    »Weil es mir ebenso unangenehm ist, wenn andere Leute in meinem Kopf herumstochern wie dir«, sage ich leise. »Ich will kein ›Fall‹ sein. Ich habe immer möglichst wenig auffallen wollen. Wenn die Öffentlichkeit jemals von mir erfahren

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