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Es stirbt in mir

Es stirbt in mir

Titel: Es stirbt in mir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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recht zu genießen. Später lähmte dann seine zunehmende Bitterkeit, das furchtbare Gefühl des Isoliertseins seine Fähigkeit zur Freude. Aber zwischen vierzehn und fünfundzwanzig! Die goldenen Jahre. Aaahhh!
    Zu jener Zeit war alles um so viel intensiver. Das Leben war ein Traumspaziergang. Es gab keine Mauern in seiner Welt; er konnte gehen, wohin er wollte, konnte sehen, was er wollte. Das volle Aroma der Existenz. Erst als Selig vierzig war, wurde ihm klar, wie sehr ihm die Fähigkeit zur Tiefenschärfe verlorengegangen war. Gemerkt, daß seine Gabe nachließ, hatte er schon, als er hoch in den Dreißigern war, aber sie war offenbar ganz unmerklich schon seit seinen ersten Erwachsenenjahren schwächer geworden. Die Veränderung war endgültig und eindeutig, qualitativ eher als quantitativ. Selbst an guten Tagen erreichten die Inputs nicht annähernd die Intensität, an die er sich aus seiner Jugendzeit erinnerte. In jenen fernen Tagen hatte ihm die Gabe nicht nur, wie jetzt, Bruchstücke gedanklicher Unterhaltung und vereinzelte Einblicke in die Seele vermittelt, sondern darüber hinaus ein buntes Universum von Farben, Strukturen, Gerüchen, Substanzen; die Welt durch eine Unendlichkeit anderer sensorischer Intakes, die Welt, zu seinem Vergnügen auf den glasklaren, leuchtenden sphärischen Bildschirm in seinem Geist projiziert. Aber jede Gabe muß versiegen. Die Zeit laugt die Farben selbst aus den schönsten Visionen. Die Welt wird grauer. Die Entropie macht uns kaputt. Alles schwindet. Alles vergeht. Alles stirbt.
13
    Judiths dunkle, riesige Wohnung ist erfüllt von appetitanregenden Düften. Ich höre sie in der Küche rumoren, sie gibt Gewürze in den Topf: scharfe Chilis, Oregano, Estragon, Nelken, Knoblauch, Senfpulver, Sesamöl, Currypulver. Und Gott weiß was sonst noch alles. Feuer glühe, Kessel sprühe! Ihre berühmte, scharfe Spaghettisauce entsteht, ein Kompendium aus geheimnisvollen Antezedenzien, teils mexikanisch in der Inspiration, teils Szetschuan, teils Madras, teils original Judith. Meine unglückliche Schwester ist keineswegs ein Heimchen am Herd, aber die wenigen Gerichte, die sie kochen kann, kocht sie wirklich hervorragend, und ihre Spaghetti werden auf drei Kontinenten gepriesen; ich bin überzeugt, daß es Männer gibt, die nur mit ihr ins Bett gehen, damit sie bei ihr essen dürfen.
    Ich bin zu früh gekommen, eine halbe Stunde vor der verabredeten Zeit, und Judith ist noch nicht fertig, ist nicht einmal richtig angezogen. Daher bleibe ich mir selbst überlassen, während sie das Essen zubereitet. »Mach dir einen Drink«, ruft sie mir zu. Ich trete ans Sideboard, um mir ein Glas, dunklen Rum einzuschenken, und hole mir Eiswürfel aus der Küche. Judith, in Hausmantel und Haarband, jagt aufgelöst hin und her, sucht atemlos die Gewürze zusammen. Sie muß sich bei allem, was sie tut, abhetzen. »Zehn Minuten noch«, keucht sie; die Pfeffermühle ergreifend. »Kommst du mit dem Kleinen zurecht?«
    Sie meint meinen Neffen. Er heißt Paul zu Ehren unseres Vaters, der da ist im Himmel, aber sie nennt ihn nie beim Namen, sondern sagt immer nur ›das Baby‹, ›der Kleine‹. Vier Jahre alt, Kind geschiedener Eltern, dazu verdammt, einmal ebenso nervös wie seine Mutter zu werden. »Ja, ja, durchaus«, beruhige ich sie und kehre ins Wohnzimmer zurück.
    Sie lebt in einer dieser alten, weitläufigen West Side-Wohnungen, geräumig und mit hohen Zimmern, denen die Aura intellektueller Distinktion angehängt wird, nur weil in diesem Viertel zahlreiche Kritiker, Dichter, Autoren und Choreographen in ganz ähnlichen Wohnungen gelebt haben. Riesiges Wohnzimmer mit vielen Fenstern zur West End Avenue; separates Eßzimmer; große Küche; Elternschlafzimmer; Kinderzimmer; Dienstbotenzimmer; zwei Badezimmer. Alles nur für Judith und ihren Sohn. Die Miete ist astronomisch, aber Judith kann sie zahlen. Sie bekommt von ihrem Ex-Ehemann über tausend Dollar pro Monat und hat ein bescheidenes eigenes Einkommen aus der Arbeit als Lektorin und Übersetzerin; außerdem werfen auch ihre Aktien etwas ab, von einem Liebhaber aus der Wall Street vor einigen Jahren sorgfältig für sie zusammengestellt und mit ihrem Erbteil der erstaunlich hohen Ersparnisse unserer Eltern erworben. (Mein Anteil half mir, die angewachsenen Schulden abzuzahlen; er schmolz dahin wie Butter in der Sonne.) Das Zimmer ist im Stil halb Greenwich Village 1960 und halb Urban Elegance 1970: schwarze Stehlampen, graue Gurtsessel,

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