Es stirbt in mir
verrann. Donaldson und Aitken unterhielten sich mit mir ruhig, kultiviert und klug über Bach, mittelalterliche Kunst, Richard M. Nixon, Pot und vieles andere. Obwohl ich diese Männer kaum kannte, waren sie bereit, ihre Zeit zu opfern, um einem Fremden die Qualen zu erleichtern. Endlich ging es mir etwas besser. Kurz vor sechs dankte ich ihnen aus tiefstem Herzen und kehrte in unser Zimmer zurück. Toni war nicht da. Der ganze Raum schien merkwürdig verändert. Auf den Regalen fehlten Bücher, an den Wänden vermißte ich Drucke. Die Tür des Wandschranks stand weit offen, die Hälfte seines Inhalts war verschwunden. In meinem Zustand totaler Erschöpfung dauerte es einige Zeit, bis ich begriff. Zunächst tippte ich auf Einbruch, sogar Entführung, dann aber erkannte ich plötzlich die Wahrheit. Toni hatte mich verlassen.
11
Heute liegt eine Ahnung des herannahenden Winters in der Luft: Sie beißt mich ein wenig in die Wangen. Der Oktober vergeht zu schnell. Der Himmel ist trübe und von ungesunder Farbe, von traurigen, schweren Wolken verhangen. Gestern hat es stark geregnet; die gelben Herbstblätter wurden von den Bäumen gefegt und kleben nun auf dem nassen Pflaster des College Walk. Ihre Spitzen flattern hilflos im rauhen Wind. Überall stehen Pfützen. Als ich mich neben der schweren, grünen Masse der Alma Mater niederlasse, breite ich sorgsam den ›Columbia Daily Spectator‹ über die nassen, kalten Steinstufen. Vor über zwanzig Jahren, als ich ein törichter, ehrgeiziger Collegeboy war und von einer Journalistenkarriere träumte – wie sinnig, ein Reporter, der Gedanken liest! –, war ›Spec‹ der Mittelpunkt meines Lebens; heutzutage dient er nur noch dazu, meine Kehrseite vor der Nässe zu bewahren.
Hier sitze ich nun. Mein Büro ist geöffnet. Auf den Knien halte ich einen dicken, mit einem breiten Gummiband verschlossenen Umschlag. Darin, sauber getippt, jeder mit einer Büroklammer versehen, fünf Aufsätze, das Ergebnis einer arbeitsreichen Woche. Kafkas Romane, Shaw als Trauerspieldichter, Das Konzept synthetischer A-priori-Erklärungen, Odysseus als Symbol der menschlichen Gesellschaft, Aischylos und die aristotelische Tragödie. Der altbekannte akademische Mist, durch die fröhliche Selbstverständlichkeit, mit der diese intelligenten, jungen Menschen einen alten Studiker für sich arbeiten lassen, in seiner hoffnungslosen Rückständigkeit nur bestätigt. Dies ist der Tag, an dem ich die bestellte Ware abliefern soll und möglicherweise ein paar neue Aufträge ergattern kann. Fünf Minuten vor elf. Bald müssen meine Kunden auftauchen. Inzwischen studiere ich die vorüberkommenden Passanten. Studentinnen eilen vorbei, Stöße von Büchern unter dem Arm, mit fliegendem Haar und hüpfenden Brüsten. Ich finde sie alle erschreckend jung, sogar die Bärtigen unter den Studenten. Vor allem die Bärtigen. Ist Ihnen klar, daß jedes Jahr mehr junge Menschen die Welt bevölkern? Sie vermehren sich ununterbrochen, während die Alten ans untere Ende der Kurve rutschen und ich mit Eilschritten meinem Grab zumarschiere. Selbst die Professoren wirken heutzutage auf mich jung. Leute, fünfzehn Jahre jünger als ich, tragen bereits den Doktortitel. 1950 mußte ich mich dreimal pro Woche rasieren und onanierte jeden Mittwoch und Donnerstag; ich war ein kräftig pubertierender bulyak von fünf Fuß neun Zoll Körpergröße mit Ehrgeiz, Sorgen und einigem Wissen: mit einer Identität. Im Jahre 1950 waren die heutigen, frischgebackenen Doktoren zahnlose Säuglinge, soeben aus dem Mutterleib geflutscht, mit krebsrotem Gesicht und einer vom Fruchtwasser klatschnassen Haut. Wieso sind aus diesen Neugeborenen so schnell Promovierte geworden? Irgendwo unterwegs haben sie mich überholt.
Da kommt mein Kunde, der muskelbepackte Halfback Paul F. Bruno. Sein ganzes Gesicht ist geschwollen von Blutergüssen, und er vermeidet es, zu lächeln, als hätten ihn die Heldentaten am Samstag einige Zähne gekostet. Ich ziehe das Gummiband ab, hole Kafkas Romane aus dem Umschlag und überreiche ihm die Arbeit. »Sechs Seiten«, erkläre ich. Zehn Dollar hat er mir als Vorschuß gegeben. »Das wären dann noch elf Dollar. Wollen Sie es lieber erst lesen?«
»Ist es gut geworden?«
»Es wird Ihnen bestimmt nicht leid tun.«
»Dann verlasse ich mich auf Ihr Wort.« Mühsam schafft er ein gequältes Lächeln. Er zieht seine Brieftasche und zählt mir Geldscheine auf die Hand. Rasch schlüpfe ich in sein Gehirn, nur so aus
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