Es stirbt in mir
verstehen. »Mit wem bist du ins Kino gegangen?« fragte sie. »Hast du nette Freundinnen?« Mein Sohn, der Junggeselle. Schon 26 und noch nicht mal verlobt. Ich wich der lästigen Frage mit einem Geschick aus, das aus langer Erfahrung stammte. Tut mir leid, Martha. Ich kann dir die ersehnten Enkelkinder nicht schenken. Da mußt du dich an Judith wenden; lange kann es nicht mehr dauern.
»Ich muß jetzt mein Brathähnchen begießen«, erklärte sie und verließ das Zimmer. Ich blieb noch eine Weile bei Vater sitzen, bis ich es nicht mehr aushalten konnte, und ging dann den Flur entlang zur Toilette, neben der Judith ihr Zimmer hatte. Ihre Tür war nur angelehnt. Ich blickte hinein. Licht aus, Jalousien unten. Aber ich erforschte ihren Geist und stellte fest, daß sie hellwach war und sich überlegte, ob sie aufstehen sollte. Na schön, mach eine Geste, sei freundlich, David. Es kostet dich nichts. Ich klopfte behutsam. »Hallo, ich bin’s«, sagte ich. »Darf ich reinkommen?«
Sie saß aufrecht im Bett, einen rüschenbesetzten, weißen Bademantel über ihren dunkelblauen Pyjama gezogen. Gähnte, reckte sich ausgiebig. Ihr Gesicht, sonst immer fast zu schmal, war vom zu langen Schlafen aufgedunsen. Rein aus Gewohnheit tastete ich mich in ihre Gedanken vor und entdeckte etwas ganz Neues, Überraschendes: Meine Schwester hatte am Abend zuvor die erotischen Weihen empfangen. Alles fand ich: das Fummeln im geparkten Auto, das Ansteigen der Erregung, die plötzliche Erkenntnis, daß dies jetzt mehr wurde als wieder einmal nur ein petting, das Höschen, das heruntergezogen wurde, das Suchen nach der richtigen Position, das ungeschickte Hantieren mit dem Kondom, den Augenblick allerletzten Zögerns, das ungehemmter Bereitschaft wich, die hastig-ungeübten Finger, die versuchten, in der jungfräulichen Öffnung Gleitsekretion zu erzeugen, das vorsichtige, unbeholfene Stochern am Anfang, dann der Stoß, mit dem der Penis eindrang, die Überraschung darüber, daß das Eindringen ganz ohne Schmerz vonstatten ging, das rhythmische Aufeinandertreffen der Körper, der explosionsartige Erguß des Jungen, das feucht-schmutzige Nachher, das Schuldbewußtsein, die Konfusion, die Enttäuschung, als es zu Ende war, ohne , daß Judith zur Befriedigung kam. Die Heimfahrt, stumm, schamerfüllt. Auf Zehenspitzen ins Haus, heisere Begrüßung der noch nicht schlafenden Eltern. Die Dusche spät in der Nacht. Das Inspizieren und Säubern der deflorierten, leicht geschwollenen Vulva. Unruhiger Schlaf, häufig unterbrochen. Eine längere Zeit der Schlaflosigkeit, in der die Erlebnisse des Abends kritisch überdacht werden: Sie ist froh und erleichtert, Frau geworden zu sein, aber auch ein wenig verängstigt. Am nächsten Morgen der Wunsch, nicht aufstehen und der Welt gegenübertreten zu müssen, vor allem Paul und Martha, den Eltern. Judith, dein Geheimnis ist für mich keines.
»Wie geht’s?« erkundigte ich mich grinsend.
Mit gekünstelter Unbekümmertheit gähnte sie: »Müde. Ich bin erst spät nach Hause gekommen. Wieso bist du hier?«
»Hin und wieder pflege ich der Familie einen Besuch abzustatten.«
»Nett, daß du da warst. Auf Wiedersehn.«
»Das ist aber nicht sehr freundlich, Jude. Findest du mich so abstoßend?«
»Warum läßt du mich nicht in Ruhe, Dav?«
»Ich sagte doch, daß ich versuche, höflich zu sein. Du bist meine einzige Schwester, die einzige, die ich je haben werde. Deswegen dachte ich, steck deinen Kopf durch die Tür und sag ihr schnell guten Tag.«
»Das hast du ja jetzt getan. Was willst du mehr?«
»Du könntest mir zum Beispiel erzählen, was du getrieben hast, seit ich das letztemal hier war.«
»Interessiert dich das?«
»Sonst hätte ich dich wohl kaum gefragt.«
»Ha, ha«, machte sie höhnisch. »Du interessierst dich einen Scheißdreck für das, was ich tue. Du interessierst dich einen Scheißdreck für alle Menschen außer für David Selig, warum machst du mir was vor? Du brauchst mir keine Höflichkeitsfragen zu stellen. Das paßt einfach nicht zu dir.«
»He, nun mal sachte!« Laß uns nicht so schnell die Klingen kreuzen, Schwesterchen. »Wie kommst du darauf, daß…«
»Denkst du zwischendurch überhaupt mal an mich? Ich bin doch bloß ein Einrichtungsgegenstand für dich. Die kleine Schwester, die ewig in die Hosen macht. Das lästige Gör. Hast du dich jemals mit mir unterhalten? Über irgendein Thema? Kennst du überhaupt den Namen der Schule, die ich besuche? Ich bin dir doch
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