Es stirbt in mir
wir tun, ist bewußt, auf der einen oder der anderen Ebene. Ich mußte Judith dies gesagt haben, weil ich wollte, daß sie endlich die Wahrheit über mich erfuhr. Aber warum? Warum ausgerechnet sie? Gewiß, Nyquist hatte ich es auch schon erzählt; von ihm drohte mir aber keine Gefahr. Aber sonst hatte ich es niemandem erzählt. Immer hatte ich mir die größte Mühe gegeben, meine Gabe zu verbergen, nicht wahr, Miß Mueller? Und jetzt wußte Judith alles. Ich hatte ihr eine Waffe in die Hand gegeben, mit der sie mich zerstören konnte.
Ich hatte ihr eine Waffe in die Hand gegeben. Wie sonderbar, daß sie sie niemals benutzte.
16
»Das Problem bei dir, mein lieber Selig, ist, daß du ein tief religiöser Mensch bist, der zufällig nicht an Gott glaubt«, sagte Nyquist. Er sagte immer solche Dinge, und Selig wußte nie genau, ob er sie ernst meinte, oder ob er nur Wortspielereien trieb. So tief Selig auch in die Seele des anderen eindrang, ganz sicher sein konnte er bei ihm nie. Dafür war Nyquist viel zu gerissen, viel zu unberechenbar.
Vorsichtshalber antwortete Selig nicht. Er stand mit dem Rücken zu Nyquist am Fenster und sah hinaus. Es schneite. Die schmalen Straßen erstickten im Schnee; nicht einmal die städtischen Schneepflüge kamen durch, so daß draußen eine seltsame Stille herrschte. Kräftiger Wind trieb Schneewehen auf. Geparkte Autos schneiten ein. Hier und da trotzte ein Hausmeister dem Wetter und schaufelte tapfer. Seit drei Tagen hatte es praktisch ununterbrochen geschneit. Der ganze Nordosten der USA war unter einer weißen Decke verschwunden. Schnee fiel auf die schmutzigen Städte, die trostlosen Vororte, die Appalachen und, weiter östlich, auf die dunklen, wilden Wogen des Atlantik. In ganz New York City regte sich nichts. Alles blieb bei diesem Wetter geschlossen: Büros, Geschäfte, Schulen, die Konzertsäle, die Theater. Die Eisenbahn fuhr nicht, die Highways waren blockiert. Auf den Flughäfen war es totenstill. Die Basketballspiele im Madison Square Garden wurden abgesagt. Selig, der nicht zur Arbeit gehen konnte, hatte den größten Teil des Schneesturms in Nyquists Apartment abgewartet und inzwischen so viel Zeit mit ihm verbracht, daß er die Gegenwart seines Freundes als einengend und bedrückend empfand. Was er früher an Nyquist amüsant und anziehend gefunden hatte, kam ihm jetzt abgedroschen und hinterlistig vor. Nyquists freundliche Selbstsicherheit wurde zu Überheblichkeit; seine gelegentlichen Vorstöße in Seligs Geist waren nicht mehr liebevolle Gesten der Intimität, sondern bewußte Aggressionshandlungen. Seine Gewohnheit, laut zu wiederholen, was Selig dachte, irritierte den anderen immer mehr, und es gab anscheinend keine Möglichkeit, ihn davon zurückzuhalten. Jetzt gerade tat er es schon wieder: Er las ein Zitat in Seligs Kopf und deklamierte es ein wenig spöttisch: »Ah, wirklich sehr hübsch! ›Seine Seele schwand langsam dahin, während er leise den Schnee durch das Universum, leise, wie ihr letztes Ende, auf die Lebenden und die Toten herabfallen hörte.‹ Das gefällt mir, David. Was ist es?«
»James Joyce«, antwortete Selig säuerlich. »›Die Toten‹ aus ›Dubliners‹. Ich hatte dich gestern gebeten, das zu lassen.«
»Ich beneide dich um deine kulturelle Bildung. Es macht mir Spaß, mir hin und wieder ein paar schöne Zitate von dir auszuborgen.«
»Großartig. Aber mußt du sie denn ewig laut wiederholen?«
Als Selig vom Fenster zurücktrat, hob Nyquist demütig die Hände. »Tut mir leid. Ich hatte vergessen, daß du das nicht magst.«
»Du vergißt nie etwas, Tom. Du tust überhaupt nie etwas, ohne es zu wollen.« Und dann, zerknirscht über seine schlechte Laune. »Mein Gott, der Schnee hängt mir zum Hals heraus!«
»Schnee ist etwas Allgemeines«, sagte Nyquist. »Er wird nie aufhören. Was machen wir heute?«
»Wahrscheinlich dasselbe wie gestern und vorgestern. Rumsitzen, zusehen, wie der Schnee fällt, Platten hören und uns besaufen.«
»Und wie wär’s mit ’nem bißchen Sex?«
»Danke, du bist nicht mein Typ«, antwortete Selig.
Nyquist warf ihm ein leeres Lächeln zu. »Sehr witzig. Ich meine, irgendwo in diesem Haus ein paar Mädchen aufstöbern und sie zu einer kleinen Party einladen. Glaubst du, in diesem Ameisenhaufen hier gibt es nicht zwei Mädchen, die sich langweilen?«
»Wir können ja mal herumlauschen«, sagte Selig achselzuckend. »Hast du noch Bourbon?«
»Warte, ich hole ihn«, sagte Nyquist.
Er holte die
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