Es stirbt in mir
Feindseligkeit gegen meine Eltern: Schließlich waren es ihre komischen Gene, die mich, so wie ich war, in die Welt gesetzt hatten. Zum anderen war da auch noch Judith, die mich mit ihrer Verachtung fürchterlich deprimierte: Sollte ich das freiwillig immer wieder auf mich nehmen? Also hielt ich mich Wochen, Monate hintereinander fern von den dreien, bis mein Schuldgefühl schwerer wog als mein Widerwille.
Als ich dort ankam, stellte ich zu meiner Erleichterung fest, daß Judith noch in ihrem Zimmer war und schlief. Um drei Uhr nachmittags? Nun ja, meine Mutter erklärte, sie sei erst spät in der Nacht von einer Verabredung nach Hause gekommen. Judith war sechzehn, also stellte ich mir vor, daß sie mit einem mageren, pickeligen Jungen bei einem Basketballspiel der High School gewesen war und anschließend irgendwo noch Milkshakes getrunken hatte. Schlaf gut, Schwesterlein mein, schlaf möglichst lange! Doch ihre Abwesenheit zwang mich natürlich zu einer direkten Konfrontation mit meinen traurigen, ausgebeuteten Eltern. Meine Mutter – mild und vage; mein Vater – müde und verbittert. Solange ich sie kannte, waren sie immer kleiner geworden. Jetzt erschienen sie mir geradezu winzig. Ich hatte den Eindruck, daß sie kurz vor der absoluten Nicht-Existenz standen.
Ich selbst hatte nie mit ihnen in dieser Wohnung gelebt. Jahrelang hatten Paul und Martha sich abgerackert, um ihre alte Wohnung mit den drei Schlafzimmern zu behalten, obwohl sie es sich nicht leisten konnten – nur weil ich mit Judith, als sie langsam heranwuchs, unmöglich dasselbe Schlafzimmer teilen konnte. Sobald ich jedoch zum College ging und mir ein Zimmer in der Nähe des Campus nahm, suchten sie sich eine kleinere und weit weniger teure Bleibe. Jetzt lag ihr Schlafzimmer rechts vom Entree, während Judiths links, einen langen Flur entlang hinter der Küche lag; geradeaus war das Wohnzimmer, in dem mein Vater saß und unkonzentriert in der Times blätterte. Er las jetzt eigentlich außer Zeitungen nichts mehr, obwohl er früher geistig wesentlich reger gewesen war. Seine Emanationen verrieten dumpfe, verschwommene Erschöpfung. Er verdiente zum erstenmal in seinem Leben verhältnismäßig gut, wurde mit der Zeit sogar regelrecht wohlhabend, hatte sich aber endgültig mit der Mentalität des armen Mannes abgefunden: armer Paul, eine richtige Niete bist du, du hättest ein viel besseres Leben verdient. Ich las die Schlagzeilen, wie er sie in seinen Gedanken sah. Tags zuvor hatte Alan Shephard seinen epochalen ersten Flug gewagt, den ersten bemannten Raumflug der Vereinigten Staaten. USA SCHICKEN MENSCHEN 115 MEILEN HOCH IN DEN WELTRAUM, schrien die Schlagzeilen. SHEPHARD AN DEN KONTROLLEN IN DER KAPSEL, FUNKT BERICHTE WÄHREND SEINES 15-MINUTEN-FLUGES. Ich suchte eine Möglichkeit, mit meinem Vater Kontakt aufzunehmen. »Was hältst du von diesem Raumflug?« fragte ich. »Hast du die Rundfunkmeldungen gehört?« Er zuckte die Achseln. »Was interessiert mich das? Das ist doch alles Wahnsinn. Meschugge. Nur Zeit- und Geldverschwendung.« KÖNIGIN ELIZABETH BESUCHT PAPST IM VATIKAN. Der dicke Papst Johannes, der aussieht wie ein wohlgenährter Rabbi. JOHNSON PLANT TREFFEN MIT ASIATISCHEN FÜHRERN, THEMA: STATIONIERUNG VON US-TRUPPEN. Er überflog den Text, ließ ganze Seiten aus. GOLDBERGS HILFE FÜR RAKETEN ERBETEN. KENNEDY UNTERZEICHNET GESETZ ÜBER TARIFMINIMUM. Nichts berührte ihn, nicht einmal KENNEDY BEFÜRWORTET SENKUNG DER EINKOMMENSSTEUER. Nur bei den Sportseiten zeigte sich ein gewisses Interesse. SCHLAMM MACHT CARRY BACK ZUM STÄRKEREN FAVORITEN FÜR DAS HEUTIGE 87. KENTUCKY DERBY. YANKEES GEGEN ANGELS IN ERSTSPIEL AN DER WESTKÜSTE VOR 21000 ZUSCHAUERN. »Welches Pferd gefällt dir beim Derby am besten?« fragte er. Und mir wurde klar, daß er bereits tot war, auch wenn sein Herz noch ein Jahrzehnt lang schlagen sollte. Er hatte aufgehört zu reagieren. Die Welt hatte ihn besiegt.
Ich überließ ihn seiner düsteren Laune und unterhielt mich höflich mit meiner Mutter: Ihr Hadassah-Lesezirkel wollte am kommenden Donnerstag über Wer die Nachtigall stört diskutieren, und sie wollte wissen, ob ich das Buch gelesen hätte. Ich hatte nicht. Was ich denn so triebe? Ob ich kürzlich gute Filme gesehen hätte? L’avventura, sagte ich. »Ist das ein französischer Film?« fragte sie. »Ein italienischer«, antwortete ich. Sie verlangte, daß ich ihr den Inhalt erzählte. Sie hörte geduldig zu, ein bißchen besorgt, ohne irgend etwas zu
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