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Es stirbt in mir

Es stirbt in mir

Titel: Es stirbt in mir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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Flasche. Nyquist hatte merkwürdig langsame Bewegungen, wie ein Mensch, der sich durch eine dichte, zähe Atmosphäre aus Quecksilber oder einer anderen schweren Flüssigkeit wühlt. Er war kräftig, aber nicht dick, breitschultrig, stiernackig, hatte einen Quadratschädel, kurz geschnittenes blondes Haar, eine flache, breitflügelige Nase und ständig ein breites, unschuldiges Grinsen auf dem Gesicht. Sehr, aber schon sehr arisch im Typ: Er war Skandinavier, Schwede wahrscheinlich, in Finnland aufgewachsen und im Alter von zehn Jahren in die Vereinigten Staaten gebracht worden. Eine ganz schwache Andeutung von Akzent hatte er immer noch nicht verloren. Er behauptete, 28 zu sein, wirkte auf Selig, der gerade 23 geworden war, aber älter. Es war im Februar 1958, in einer Zeit, da Selig noch in der Illusion lebte, er werde es in der Welt der Erwachsenen schaffen. Eisenhower war Präsident, an der Börse knisterte es bedrohlich, das Gefühlstief nach dem Sputnik bedrückte alle, obwohl auch der erste amerikanische Raumsatellit in seine Umlaufbahn gebracht worden war, und der letzte Schrei der Damenmode war das Sackkleid. Selig lebte in Brooklyn Heights, in der Pierrepont Street, und fuhr mehrmals in der Woche in die untere Fifth Avenue, wo er in einem Verlag für drei Dollar die Stunde als freiberuflicher Korrektor arbeitete. Nyquist wohnte im selben Gebäude, nur vier Stockwerke über ihm. Er war der einzige Mensch unter Seligs Bekannten, der ebenfalls die Gabe besaß. Und nicht nur das, sondern die Tatsache, daß er sie besaß, hatte ihn seelisch überhaupt nicht verkrüppelt. Nyquist benutzte seine Gabe so einfach und so selbstverständlich wie seine Augen und seine Beine, ohne Entschuldigungen und ohne Gewissensbisse, zu seinen eigenen Gunsten. Er war wohl der am wenigsten neurotische Mensch, den Selig jemals kennengelernt hatte. Dem Wesen nach war er ein Dieb, weil er sich sein Einkommen verschaffte, indem er die Gedanken anderer Menschen ausplünderte wie eine Dschungelkatze, jedoch schlug er nur zu, wenn er Hunger hatte, und nie um der Tat selbst willen. Er nahm sich, was er brauchte, stellte niemals die Vorsehung in Frage, die ihn so einzigartig für den Raub ausgestattet hatte, nahm aber nie mehr, als er brauchte, und seine Bedürfnisse waren bescheiden. Einen Job hatte er nicht, hatte auch offenbar nie einen gehabt. Wenn er Geld brauchte, fuhr er mit der Subway zur Wall Street, schlenderte durch die düsteren Schluchten des Finanzdistrikts und durchstöberte die Gedanken der in ihren Sitzungszimmern hoch über der Straße eingeschlossenen Geldmagnaten. Irgendwo wurde immer der eine oder andere größere Coup ausgeheckt, der sich auf den Markt auswirken würde – eine Fusion, ein Aktiensplitting, ein Erzfund, eine günstige Zahlungsbilanz –, und es fiel Nyquist niemals schwer, Kenntnis von den Details zu erhalten. Diese Informationen verkaufte er dann unmittelbar zu beträchtlichen, aber durchaus akzeptablen Summen an etwa zwölf bis fünfzehn Privatinvestoren, die zu ihrer größten Freude die Erfahrung gemacht hatten, daß Nyquist eine zuverlässige Quelle war. Viele jener unerklärlichen Lecks, mit denen auf dem Haussemarkt der 50er Jahre Vermögen gemacht worden waren, hatten ihren Ursprung bei ihm gehabt. Auf diese Weise verschaffte er sich einen recht hübschen Lebensunterhalt, genug, um nichts entbehren zu müssen. Seine Wohnung war klein, aber elegant: schwarze Naugahyde-Polstermöbel, Tiffanylampen, Picasso-Tapeten, eine stets wohlgefüllte Bar, eine hervorragende Stereoanlage, die einen ununterbrochenen Strom Monteverdi, Palestrina, Bartok und Strawinsky von sich gab. Er führte ein bequemes Junggesellenleben, ging häufig aus und machte die Runde bei seinen Lieblingsrestaurants, die alle unbekannt und ethnisch waren: japanisch, pakistanisch, syrisch oder griechisch. Sein Freundeskreis war klein, aber erlesen: Maler, Schriftsteller, Musiker, Dichter. Er schlief mit vielen verschiedenen Frauen, und selten hatte Selig erlebt, daß er mit derselben zweimal schlief.
    Genau wie Selig, konnte Nyquist zwar empfangen, aber nicht senden; er merkte jedoch, wenn jemand seine eigenen Gedanken ausforschte. Und so hatten sie sich auch zufällig kennengelernt. Selig, eben erst ins Haus eingezogen, hatte seinem Hobby gefrönt und sein Bewußtsein frei von Wohnung zu Wohnung schweifen lassen, um sich ein Bild von seinen neuen Nachbarn zu machen. Müßig erkundete er diesen und jenen Kopf, fand aber nirgends etwas

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