Es stirbt in mir
völlig fremd!«
»Bist du nicht.«
»Und was glaubst du über mich zu wissen?«
»Eine Menge.«
»Zum Beispiel?«
»Hör auf, Jude!«
»Ein Beispiel nur, Dav – eines! Eine einzige Tatsache. Zum Beispiel…«
»Wie du willst. Also gut. Zum Beispiel weiß ich, daß du gestern abend entjungfert worden bist.«
Wir waren beide verdattert darüber. Restlos geschockt stand ich schweigend da, wollte nicht glauben, daß ich diese Worte über meine Lippen gebracht hatte. Und Judith zuckte zusammen, als hätte sie ein elektrischer Schlag getroffen, erstarrte, richtete sich steif auf, in ihren Augen wütende Verwunderung. Wie lange wir einander so anstarrten, stumm, reglos, weiß ich nicht.
»Wie bitte?« brachte sie schließlich heraus. »Was hast du da eben gesagt, Dav?«
»Du hast es genau gehört.«
»Ich hab’s gehört, aber ich glaube, ich habe geträumt. Sag’s noch mal.«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Laß mich in Ruhe, Jude.«
»Wer hat dir das erzählt?«
»Bitte, Jude…«
» Wer hat dir das erzählt? «
»Niemand«, murmelte ich geknickt.
Zu meinem größten Schrecken lächelte sie triumphierend. »Weißt du was? Ich glaube dir. Ehrlich, Dav, ich glaube dir. Daß niemand dir davon erzählt hat. Du hast es in meinen Gedanken gelesen, nicht wahr, Dav?«
»Mein Gott, wäre ich doch bloß nicht hergekommen!«
»Gib’s doch zu! Warum willst du’s nicht zugeben? Du kannst Gedanken lesen, nicht wahr, Dav? Du bist ’ne Varietenummer. Ich habe das schon lange vermutet. Immer diese Ahnungen, die du hast, und dann stellt sich jedesmal heraus, daß sie richtig waren, und dann diese auffällige Art, wie du dich herauszureden versuchst, wenn du mal wieder recht gehabt hast. Du hättest eben ›Glück‹ gehabt, rein zufällig richtig geraten. Schönes Glück! Ich wußte Bescheid, Dav. Der Scheißkerl liest deine Gedanken, habe ich mir gesagt. Aber dann habe ich wieder gedacht, das ist doch verrückt, solche Menschen gibt es nicht, das ist ganz einfach nicht möglich. Aber es ist doch wahr, nicht? Du rätst nicht, du liest. Du liest in uns wie in einem weit offenen Buch. Du spionierst. Habe ich recht?«
Hinter mir hörte ich ein Geräusch, zuckte erschrocken zusammen. Aber es war nur Martha, die zur Schlafzimmertür hereinschaute. Vages, etwas verträumtes Lächeln. »Guten Morgen, Judith. Oder vielmehr, guten Nachmittag. Unterhaltet ihr euch schön, Kinder? Das freut mich. Vergiß das Frühstück nicht, Judith.« Damit zog sie sich wieder zurück.
»Warum hast du es ihr nicht gesagt?« fragte Judith scharf. »Warum hast du ihr nicht haargenau alles beschrieben? Mit wem ich gestern abend zusammen war, was ich mit ihm getrieben habe, was ich dabei gefühlt habe…«
»Hör auf, Jude!«
»Du hast meine andere Frage nicht beantwortet. Du besitzt doch diese unheimliche Gabe, nicht wahr, Dav? Nicht wahr? «
»Ja.«
»Und hast dein ganzes Leben lang in den Gedanken der Leute spioniert.«
»Ja! Ja!«
»Das wußte ich doch! Das heißt, ich wußte es eigentlich nicht, aber ich ahnte es die ganze Zeit. Und das erklärt natürlich auch vieles. Warum ich mir zum Beispiel als Kind immer schmutzig vorgekommen bin, wenn du in meiner Nähe warst. Warum ich das Gefühl hatte, als würde alles, was ich tat, am nächsten Tag in der Zeitung stehen. Nie hatte ich eine Privatsphäre, nicht einmal, wenn ich mich im Bad eingeschlossen hatte. Nie hatte ich das Gefühl, wirklich allein zu sein.« Sie schauderte. »Hoffentlich sehe ich dich niemals wieder, Dav. Jetzt, wo ich wirklich weiß, was du bist. Ich wollte, ich hätte dich nie gesehen. Wenn ich dich jetzt noch einmal dabei erwische, daß du in meinem Kopf spionierst, schneide ich dir die Eier ab, verstanden? So wahr mir Gott helfe, ich schneide dir die Eier ab. Und jetzt mach, daß du fortkommst, ich will mich anziehen.«
Stolpernd hastete ich davon. Im Badezimmer packte ich die kalte Kante des Waschbeckens und beugte mich weit zum Spiegel vor, um mein gerötetes, verwirrtes Gesicht zu betrachten. Es wirkte benommen, meine Züge waren starr, als hätte ich einen Schlaganfall erlitten. Ich weiß, daß du gestern abend entjungfert worden bist. Warum hatte ich ihr das gesagt? War es ein Zufall? Hatte ich die Worte hervorgesprudelt, weil sie mich so sehr gereizt hatte, daß ich jede Vorsicht vergaß? Aber ich hatte mich noch nie, von niemandem, zu einem solchen Bekenntnis verführen lassen. Es gibt keinen Zufall, behauptet Freud. Es gibt keine Versprecher. Alles, was
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