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Es stirbt in mir

Es stirbt in mir

Titel: Es stirbt in mir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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Toilettenschüssel und pisse geduldig meine Gabe aus. Natürlich fühle ich Trauer über das, was mit mir geschieht, ich fühle Bedauern, ich fühle – warum es nicht zugeben? – ich fühle Zorn und Frustration und Verzweiflung, aber außerdem fühle ich seltsamerweise auch Scham. Meine Wangen brennen, ich kann anderen nicht in die Augen sehen, ich schäme mich vor meinen Mitmenschen, als wäre mir etwas Kostbares anvertraut worden, und ich hätte dieses Vertrauen nicht gerechtfertigt. Vor der ganzen Welt muß ich bekennen, daß ich meinen Besitz verschleudert, mein Erbteil vergeudet habe, daß es mir durch die Finger geglitten ist, mehr, immer mehr, daß ich Pleite gemacht habe, ein Bankrotteur bin. Möglicherweise ist das eine Familieneigenart, diese Scham, wenn Katastrophen eintreten. Wir Seligs möchten der Welt beweisen, daß wir ordentliche Menschen sind, daß wir unsere Seele fest in der Hand haben, und wenn höhere Gewalt uns trifft, sind wir beschämt. Ich erinnere mich noch an damals, als meine Eltern vorübergehend einen Wagen besaßen, einen dunkelgrünen Chevrolet Baujahr 1948, im Jahr 1950 zu einem unglaublich günstigen Preis erworben. Wir waren irgendwo in Queens unterwegs, vermutlich wollten wir zum Grab meiner Großmutter – eine alljährliche Pilgerfahrt –, als aus einer Seitenstraße ein Wagen kam und mit uns zusammenstieß. Am Lenkrad saß ein betrunkener Schwarzer. Niemand von uns war verletzt, aber unser Kotflügel war ziemlich demoliert, der Kühlergrill zerbrochen und der für den 1948er Chevy typische T-Balken hing lose herab. Obwohl er keineswegs die Schuld an diesem Zusammenstoß trug, wurde mein Vater puterrot vor Verlegenheit, als wolle er die ganze Welt um Vergebung dafür bitten, daß er etwas so Unverzeihliches getan und zugelassen hatte, daß sein Wagen angefahren wurde. Mein Gott, wie demütig er sich bei dem anderen Fahrer entschuldigte – mein ewig grimmiger, bitterer Vater! Ist ja nicht schlimm, so ein Unfall kann passieren, Sie brauchen sich keine Vorwürfe zu machen, es ist ja keinem was passiert! Na seh’n Sie doch, man, seh’n Sie sich meinen Wagen an, jammerte der andere Fahrer immer wieder, der anscheinend merkte, daß mein Vater weich wie Butter war, und ich fürchtete schon, mein Vater würde ihm sogar das Geld für die Reparatur geben, was meine Mutter, die denselben Gedanken hatte wie ich, gerade noch verhindern konnte. Eine Woche später schämte er sich immer noch; einmal, als er sich mit einem Freund unterhielt, schlüpfte ich in seinen Kopf und hörte, wie er versuchte, so zu tun, als hätte meine Mutter am Steuer gesessen – einfach absurd, denn sie hatte keinen Führerschein –, und nun schämte ich mich für ihn. Auch Judith bekundete, als ihre Ehe in die Brüche gegangen war und sie daraus die Konsequenzen zog, tiefe Verzweiflung über die beschämende Tatsache, daß ein so zielbewußter und tüchtiger Mensch wie Judith Hannah Selig je eine so schlechte, ja grauenvolle Ehe geführt hatte, die nun vor dem Scheidungsgericht auf eine so vulgäre Art und Weise geschieden wurde. Ego, Ego, Ego. Ich, der wunderbare Gedankenleser, befinde mich auf dem absteigenden Ast und entschuldige mich für meine Leichtfertigkeit. Ich muß meine Gabe irgendwo verlegt haben. Können Sie mir verzeihen?
    Gut ist Vergeben,
Am besten Vergessen.
Im Leben nur Hetzen,
Im Tode Leben.
    Ich diktiere einen imaginären Brief. Mr. Selig, bitte schreiben Sie. Hmhm. Miß Kitty Holstein, Soundso West Sixty-soundso-Street, New York City. Adresse können Sie später feststellen. Postleitzahl nicht notwendig.
    Liebe Kitty,
    ich weiß, ich habe ewig nichts mehr von mir hören lassen, aber ich glaube, jetzt ist es angebracht, wieder Kontakt mit Dir aufzunehmen. Dreizehn Jahre sind inzwischen vergangen, also sind wir beide vermutlich in gewisser Weise reifer geworden, die alten Wunden sind verheilt und eine Verständigung wieder möglich. Trotz aller Ressentiments, die zwischen uns beiden geherrscht haben mögen, ist meine Zuneigung zu Dir niemals erloschen, und in Gedanken sehe ich immer noch Dein Bild.
    Übrigens, da wir gerade von den Gedanken sprechen: Mit meiner Gabe steht es auch nicht mehr zum besten. Ich meine die Gedankenleserei, die mir bei Dir ja ohnehin unmöglich war, die aber mein Verhältnis zu allen anderen Menschen auf der Welt geformt und bestimmt hat. Diese Gabe scheint mich jetzt zu verlassen. Und uns beiden hat sie so großen Kummer gemacht, erinnerst Du Dich? Sie hat uns

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