Es stirbt in mir
beglückwünschten sie sich gegenseitig nicht dazu, eine Allianz gegen die nicht so begnadete Welt ringsum gebildet zu haben. Sie kommunizierten manchmal mit Worten, manchmal durch direkten Kontakt des Geistes; es wurde eine leichte, fröhliche Verbindung, ein wenig gespannt nur, wenn Selig in seine gewohnte düstere Stimmung verfiel und Nyquist über ihn spöttelte, weil er sich einfach gehen ließ. Aber selbst das ließ keine Differenzen zwischen ihnen entstehen, bis die Tage des Schneesturms kamen und alle Spannungen sich verstärkten, weil sie viel zu lange allein beieinander waren.
»Gib mir dein Glas«, sagte Nyquist zu Selig.
Er schenkte bernsteinfarbenen Bourbon ein. Selig machte es sich bequem und trank, während Nyquist sich auf die Suche nach Mädchen machte. Er brauchte nicht mehr als fünf Minuten. Rasch tastete er das ganze Haus ab und hatte sofort zwei Bewohnerinnen eines Apartments im vierten Stock gefunden. »Hier, schau mal«, forderte er Selig auf. Selig drang in Nyquists Geist ein. Nyquist hatte sich in das Bewußtsein des einen Mädchens eingeschaltet – sinnlich, träge, katzenhaft – und betrachtete durch ihre Augen die andere, eine große, magere Blondine. Das doppelt gebrochene geistige Bild erschien trotzdem völlig deutlich und klar: Die Blondine war langbeinig, sexy und schön wie ein Mannequin. »Die nehme ich«, erklärte Nyquist.
»Und jetzt sag mir, ob dir deine auch gefällt.« Er wechselte, zusammen mit Selig, in den Geist der großen Blonden über. Jawohl, ein Mannequin, intelligenter als die andere, kalt, egoistisch, leidenschaftlich. Aus ihrem Kopf kam via Nyquist das Bild ihrer Wohngenossin, die in einem rosa Morgenrock lässig auf dem Sofa lag: eine kleine, rundliche Rothaarige, vollbusig, mit rundem Gesicht. »Natürlich«, sagte Selig. »Warum nicht?« Nyquist stöberte noch ein bißchen im Geist der Mädchen, fand ihre Telefonnummer, rief an und ließ seinen Charme spielen. Sie kamen auf ein paar Drinks herauf. »Dieser grauenhafte Schneesturm!« Die Blonde schauderte. »Der macht einen doch ganz verrückt.« Die vier kippten eine ganze Menge Alkohol und hörten dazu harten Jazz: Mingus, MJQ, Chico Hamilton. Die Rothaarige sah besser aus, als Selig erwartet hatte, keineswegs so rundlich oder primitiv – die doppelte Brechung mußte ein paar Verzerrungen bewirkt haben –, aber sie kicherte zuviel, so daß er sie irgendwie nicht recht mochte. Immerhin, jetzt konnte er nicht mehr zurück. Schließlich, ziemlich spät am Abend, zogen sie sich paarweise zurück, Nyquist und die Blonde ins Schlafzimmer, Selig und die Rothaarige ins Wohnzimmer. Als sie allein waren, grinste Selig sein Mädchen verlegen an. Er hatte es nie geschafft, dieses infantile Grinsen loszuwerden, obwohl er wußte, daß es eine Mischung glotzäugiger Erwartung und bestürzten Entsetzens verriet. »Hallo!« sagte er. Sie küßten sich, und seine Hände umfaßten ihre Brüste. Sie preßte sich schamlos, gierig an seinen Körper. Er hatte den Eindruck, daß sie ein paar Jahre älter war als er, aber diesen Eindruck hatte er bei den meisten Frauen. Sie zogen sich aus. »Ich mag dünne Männer«, sagte sie und kicherte wieder, als sie ihn in das magere Fleisch kniff. Ihre Brüste stiegen ihm entgegen wie rosige Vögel. Er streichelte sie mit der scheuen Intensität eines jungfräulichen Mannes. Während der Monate seiner Freundschaft mit Nyquist hatte dieser ihm gelegentlich eines seiner abgelegten Mädchen zugespielt, aber er war seit Wochen schon nicht mehr mit einer im Bett gewesen und fürchtete nun, die Abstinenz könne ihn in eine peinliche Kalamität bringen. Aber nein: Der Alkohol dämpfte seinen Eifer einigermaßen, er selbst zügelte sich ebenfalls und bearbeitete sie ernst und voll Energie, ohne fürchten zu müssen, daß er zu schnell kam.
Ungefähr zum selben Zeitpunkt, als er feststellte, daß die Rothaarige zu betrunken war, um zu kommen, spürte Selig in seinem Schädel ein leichtes Kribbeln: Nyquist tastete ihn ab! Diese Neugier, dieser Voyeurismus war ein abwegiges Vergnügen für den gewöhnlich selbstgenügsamen Nyquist. Spionieren ist mein Trick, dachte Selig, sekundenlang von dem Bewußtsein beim Liebesakt beobachtet zu werden, so beunruhigt, daß er schlaff zu werden begann. Durch eine gewaltige geistige Anstrengung richtete er sich wieder auf. Es ist bedeutungslos, redete er sich ein. Nyquist ist durch und durch amoralisch und macht, was er will, schnüffelt hier, schnüffelt da,
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