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Es stirbt in mir

Es stirbt in mir

Titel: Es stirbt in mir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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Würdest Du mir während der letzten Phase dieses Geschehens beistehen? Ich brauche so dringend Hilfe! Ich brauche Liebe. Ich weiß, das ist eine miese Art, Dir einen solchen Vorschlag zu machen, das bedeutet nichts als die Bitte: Hilf mir, tröste mich, bleibe bei mir! Viel lieber hätte ich voll Kraft die Hand nach Dir ausgestreckt, als in Schwäche. Aber leider bin ich jetzt sehr schwach. In meinem Kopf wächst das Schweigen, dehnt sich aus, immer weiter, füllt meinen ganzen Schädel, schafft eine ungeheure Leere. Ich leide unter einem allmählichen Verblassen der Realität. Ich sehe nur noch die Umrisse der Dinge, nicht mehr ihre Substanz, und nun werden die Umrisse auch noch unscharf. Mein Gott! Kitty, ich brauche Dich! Wie und wo finde ich Dich, Kitty? Ich kannte Dich kaum. Kitty Kitty Kitty
    Twang. Der tönende Akkord:
Twing. Die zerspringende Saite,
Twong. Die ungestimmte Lyra.
Twang. Twing. Twong.
    Meine lieben Kinder im Herrn, meine Predigt heute morgen ist sehr kurz. Ich bitte euch lediglich, über die tiefere Bedeutung und das Geheimnis einiger weniger Zeilen nachzudenken und zu meditieren, die ich aus dem Werk des frommen Tom Eliot zitieren werde, ein guter Berater für traurige Zeiten. Meine Geliebten, ich weise euch hin auf seine Vier Quartette, auf seine paradoxe Zeile ›In meinem Anfang liegt mein Ende‹, die er einige Seiten später mit der Bemerkung erweitert: ›Was wir den Anfang nennen, ist oft das Ende/Und ein Ende zu machen, ist einen Anfang machen‹. Einige von uns, liebe Kinder, gehen gerade jetzt ihrem Ende entgegen; das heißt, Aspekte ihres Lebens, die für sie einst der Mittelpunkt waren, finden langsam ihren Abschluß. Ist das ein Ende, oder ist es ein Anfang? Kann das Ende des einen nicht der Anfang von etwas anderem sein? Ich glaube, ja, ihr Geliebten. Ich glaube, daß das Schließen einer Tür das Öffnen einer anderen nicht ausschließt. Man braucht natürlich Mut, um durch diese neue Tür zu treten, da man nicht weiß, was dahinter liegt; wer jedoch fest ist im Glauben an Unseren Herrn, der für uns am Kreuz gestorben ist, wer voll Vertrauen ist auf Ihn, der gekommen ist, die Menschen zu erlösen, der braucht nichts zu fürchten. Unser Leben ist eine Pilgerreise zu Ihm. Wir mögen tagtäglich kleine Tode sterben, aber wir werden von Tod zu Tod wiedergeboren, bis wir zuletzt in das Dunkel eingehen, in die leeren, interstellaren Räume, wo Er uns erwartet, und warum sollten wir uns fürchten, wenn Er doch dort ist? Bis dahin aber laßt uns unser Leben leben, ohne der Versuchung zu unterliegen, der Versuchung, um uns selber zu trauern. Vergeßt niemals, daß die Welt immer noch voll Wunder ist, daß es immer wieder neue Kreuzzüge gibt, daß scheinbares Ende in Wahrheit nicht Ende ist, sondern Übergang, Wegstation. Weshalb sollten wir trauern? Warum sollten wir uns dem Kummer überlassen, auch wenn unser Leben täglich aus Abstrichen besteht? Wenn wir dies verlieren, verlieren wir auch das? Wenn das Augenlicht schwindet, schwindet die Liebe ebenfalls? Wenn das Gefühl schwächer wird, können wir uns nicht wieder alten Gefühlen zuwenden und in ihnen Trost suchen? Ein großer Teil unseres Schmerzes ist nichts als Verwirrung.
    Seid also heute, am Tag Unseres Herrn, frohen Mutes, geliebte Kinder, und ersinnt keine Fallen, in denen ihr euch selber fangt, ergeht euch nicht in der hemmungslosen Sünde der Trübsal und macht keinen falschen Unterschied zwischen Ende und Anfang, sondern geht vorwärts, zu neuen Ekstasen, zu neuen Kommunikationen, und gebt der Angst keinen Raum in eurer Seele, sondern gebt euch dem Frieden Christi hin und nehmt das hin, was kommen muß. Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
    Jetzt kommt, zur Unzeit, ein dunkles Äquinoktium. Der bleiche Mond schimmert wie ein blanker Schädel. Die Blätter welken und fallen ab. Die Feuer erlöschen. Die müde Taube flattert zur Erde. Dunkelheit breitet sich aus. Alles verweht. Das purpurne Blut stockt in den verengten Adern; der Frost umklammert das schwer arbeitende Herz; die Seele schwindet; sogar die Füße werden unzuverlässig. Worte versagen. Unser Führer gibt zu, daß wir den Weg verloren haben. Festes wird transparent. Dinge gleiten davon. Farben verblassen. Es ist eine graue Zeit, und ich fürchte, daß sie eines Tages noch grauer wird. Bewohner des Hauses, Gedanken eines unfruchtbaren Hirns in einer unfruchtbaren Jahreszeit.
18
    Als Toni meine Wohnung in der 144th Street verlassen

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