Es stirbt in mir
ohne Rücksicht auf Anstand, und warum soll ich mich durch seine Neugier stören lassen? Wieder beruhigt, streckte er die Fühler nach Nyquist aus und sondierte ihn ebenfalls. Nyquist hieß ihn herzlich willkommen:
-Wie geht’s denn, Davey?
-Danke, gut.
-Ich hab’ ’ne richtig heiße Nummer erwischt. Sieh mal hier!
Selig beneidete Nyquist um seine kühle Gelassenheit. Keine Scham, kein Schuldbewußtsein, keine wie immer gearteten Schwierigkeiten. Aber auch keine Spur von exhibitionistischem Stolz oder voyeuristischem Zungeheraushängen: Er schien es für vollkommen natürlich zu halten, jetzt diesen Kontakt herzustellen. Selig dagegen fühlte sich unbehaglich, als er Nyquist mit geschlossenen Augen die Blondine bearbeiten sah und merkte, wie Nyquist ihn auf ähnliche Weise beobachtete. Die Bilder ihrer parallelen Kopulationen wirbelten von Geist zu Geist, wurden hin und her gespielt. Nyquist, der einen Moment Pause machte und Seligs Unruhe bemerkte, spöttelte ein wenig darüber. Du machst dir Sorgen, weil du eine latente Homosexualität darin zu entdecken glaubst, teilte Nyquist ihm mit. Aber ich glaube vielmehr, wovor du dich wirklich fürchtest, das ist der Kontakt, jede Art von Kontakt. Habe ich recht? Nein, du hast unrecht, antwortete Selig, aber Nyquist hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Fünf Minuten noch überwachten sie jeder des anderen Geist, bis Nyquist entschied, daß es Zeit sei, mit ein paar raschen tiefen Stößen den Höhepunkt herbeizuführen, und die stürmischen Konvulsionen seines Nervensystems Selig, wie üblich, aus seinem Bewußtsein katapultierten. Kurz darauf ließ Selig sich, weil ihm das Rumstochern in der sich windenden, verschwitzten Rothaarigen zu langweilig wurde, ebenfalls zum Klimax kommen und sackte anschließend vor Erschöpfung schnaufend und fröstelnd auf ihr zusammen.
Eine halbe Stunde später kam Nyquist mit der Blonden nackt ins Wohnzimmer. Anklopfen hielt er offenbar nicht für nötig, was die Rothaarige ein wenig verwunderte. Natürlich konnte Selig ihr nicht erklären, warum Nyquist wußte, daß sie fertig waren. Nyquist legte ein bißchen Musik auf, und alle saßen schweigend herum, Selig und die Rothaarige mit dem Bourbon, Nyquist und die Blonde mit dem Scotch beschäftigt. Gegen Morgen, als der Schneesturm ein bißchen nachließ, schlug Selig behutsam eine zweite Bettrunde vor, diesmal aber mit Partnerwechsel. »Nein«, antwortete die Rothaarige, »ich bin restlos ausgefickt. Ich will schlafen. Ein andermal, okay?« Und sie griff nach ihren Kleidern. An der Tür, die sie nur mühsam schwankend erreichte, rief sie ihnen ein alkoholseliges Auf Wiedersehen zu, und dann ließ sie die Katze aus dem Sack. »Ich weiß nicht, aber irgendwas ist einfach komisch an euch beiden«, erklärte sie. In vino veritas. »Seid ihr auch schwul?«
17
Ich bin am toten Punkt angelangt. Still, statisch, fest verankert. Nein, das ist eine Lüge, und wenn es keine Lüge ist, dann wenigstens eine gut gemeinte falsche Darstellung, eine nicht zutreffende Metapher. Bei mir herrscht bereits ablaufendes Wasser. Und die Ebbe nimmt stetig zu, läßt mich als nackte, felsige Küste zurück, versteinert, mit schmutzigbraunen Seetangsträhnen, die die zurückweichende Flut an meinen Spitzen und Kanten hängen gelassen hat. Grüne Krebse kriechen umher. Jawohl, ich ebbe ab, will sagen, ich werde schwächer, kleiner, geringer. Und wissen Sie was? Ich nehme das ganz ruhig hin. Gewiß, meine Stimmungen schwanken, aber…
Ich nehme
Das ganz
Ruhig hin.
Es ist jetzt drei Jahre her, daß ich mich von mir selbst zu entfernen begann. Es fing an, glaube ich, im Frühling 1974. Bis dahin funktionierte alles einwandfrei, ich meine, die Gabe. Stets war sie da, wenn ich sie brauchte, immer zuverlässig, führte all ihre üblichen Tricks aus, erfüllte all meine schmutzigen Bedürfnisse; und dann, ohne Warnung, ohne Grund, begann sie zu sterben. Kleine Fehler beim Input. Winzige Episoden geistiger Impotenz. All diese Ereignisse assoziiere ich mit den ersten Frühlingstagen, mit schwärzlichen Schneeresten, die hier und da noch auf den Straßen lagen, es konnte auch weder 1975 noch 1973 gewesen sein, daher bleibt als Zeitpunkt des Anfangs vom Ende nur das dazwischenliegende Jahr. Da saß ich dann, behaglich, zufrieden, im Kopf irgendeines anderen Menschen, betrachtete genüßlich verborgen geglaubte Skandale, und plötzlich verschwamm alles und wurde vage. Als läse man die Times, und der Text
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