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Es stirbt in mir

Es stirbt in mir

Titel: Es stirbt in mir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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verwandelte sich abrupt von einer Zeile zur anderen in ein Joycesches Traumgestammel, so daß ein nüchterner, langweiliger Bericht über die von den Untersuchungsausschüssen über den Präsidenten zutage geförderten Fakten zu einem verworrenen, unverständlichen Report über die Borborygmen des alten Earwicker wird. In solchen Momenten wurde ich unsicher und zog mich angstgeschüttelt zurück. Was würden Sie tun, wenn Sie sich mit Ihrer Herzallerliebsten im Bett glaubten und beim Erwachen feststellen müßten, daß Sie mit einem Seestern schlafen? Doch diese Unklarheiten und Verzerrungen waren noch nicht das Schlimmste: Das Schlimmste waren, glaube ich, die Inversionen, die totale Umkehrung der Signale. So daß ich zum Beispiel das Zeichen für Liebe empfange, wenn in Wirklichkeit eiskalter Haß ausgestrahlt wird. Oder umgekehrt. Wenn das geschieht, möchte ich am liebsten gegen die Wände hämmern, um mich zu vergewissern, daß wenigstens sie real sind. Von Judith empfing ich eines Tages starke Wellen sexuellen Begehrens, ein überwältigendes, inzestuöses Sehnen, das mich ein ausgezeichnetes Essen kostete, weil mir übel wurde und ich hinauslaufen mußte, um mich zu übergeben. Alles ein Irrtum, alles Täuschung; sie hatte Speere auf mich gerichtet, die ich für Amors Pfeile hielt, ich Idiot! Ja, und von da an kamen plötzlich Unterbrechungen, winzige Tode meiner Gabe mitten in einem Kontakt, und danach sozusagen Wellensalat beim Input, verkehrt gestöpselte Drähte, zwei Emanationen gleichzeitig, ohne daß ich sie voneinander unterscheiden konnte. Eine Zeitlang versagte meine Farbenwahrnehmung, aber die ist wenigstens wiedergekommen, eine von den vielen scheinbaren Besserungen. Und dann kamen andere Verluste, kaum spürbar, in der Auswirkung jedoch kumulierend. Ich lege Listen der Dinge an, die ich konnte, jetzt aber nicht mehr kann. Inventare meiner Schrumpfung. Wie ein Sterbender, ans Bett gefesselt, gelähmt, aber geistig noch klar, der zusehen muß, wie seine Verwandten ihn langsam ausplündern. Heute nehmen sie den Fernseher, morgen die Erstausgabe Thackerays, dann die Löffel, nun folgen meine Piranesis, Töpfe und Pfannen, Jalousetten, Krawatten, Hosen, und nächste Woche rauben sie mir meine Zehen, Eingeweide, Hoden, Lungen und Nasenlöcher. Was wollen die bloß mit meinen Nasenlöchern? Anfangs habe ich meinen Abstieg bekämpft – mit langen Spaziergängen, kalten Duschen, Tennis, großen Dosen Vitamin A und anderen vielversprechenden, albernen Mitteln; vor kurzem experimentierte ich mit Fasten und Meditieren. Diese Bemühungen erscheinen mir heute jedoch unpassend, ja sogar blasphemisch; heutzutage erstrebe ich ein fröhliches Hinnehmen meines Verlusts, und zwar, wie Sie wohl schon gesehen haben, mit einigem Erfolg. Aischylos rät mir, nicht wider den Stachel zu locken, Euripides auch und sogar Pindar; und wenn ich im Neuen Testament nachschlage, finde ich dort diese Empfehlung vermutlich ebenfalls. Also gehorche ich, locke nicht, auch wenn der Stachel noch so sticht. Ich akzeptiere, ich akzeptiere. Sehen Sie, wie die Eigenschaft des Akzeptierens in mir wächst? Sie können mir glauben, ich meine es ernst. Wenigstens an diesem Vormittag, da goldenes Herbstsonnenlicht in mein Zimmer flutet und meine zerschlissene Seele weitet, bin ich auf dem besten Weg zum Akzeptieren. Ich liege hier und übe mich in den Techniken, die mich der Erkenntnis gegenüber, daß meine Gabe mich verläßt, hart machen. Ich suche nach der Freude, die, wie ich weiß, im Bewußtsein des Niedergangs enthalten liegt. ›Werd alt mit mir! Das Beste kommt erst jetzt, des Lebens reifer Teil, für den der andere gewiß nur Vorbereitung…‹ Glauben Sie das? Ich glaube es. Ich werde immer besser im Glauben an alles mögliche. Zuweilen habe ich schon vor dem Frühstück an bis zu sechs unglaubliche Dinge geglaubt! Der liebe, gute, alte Browning! Wie tröstlich er für mich doch ist:
    Sei über jeden Stein erbaut,
Der der Erde Glätte rauht.
Und schmerzt ein Stachel, rast nicht, geh!
Dreiviertel unsrer Freud sei Pein!
Müh dich – und es wird mühlos sein.
    Ja. Gewiß. Und Dreiviertel unserer Pein sei Freude, hätte er noch hinzufügen können. Diese Freude heute morgen! Und alles verläßt mich, ebbt aus mir heraus. Verschwindet durch jede Pore meines Körpers.
    Das große Schweigen hält bei mir Einzug. Wenn meine Gabe fort ist, werde ich mit niemandem mehr sprechen. Und niemand wird mehr mit mir sprechen.
    Ich stehe hier vor der

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