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Es stirbt in mir

Es stirbt in mir

Titel: Es stirbt in mir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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schließlich auseinandergebracht, wie ich Dir in meinem letzten Brief zu erklären versuchte, in dem Brief, den Du nicht beantwortet hast. In einem Jahr oder so – wer weiß, vielleicht schon in sechs Monaten, in einem Monat, einer Woche – wird sie vollständig verschwunden sein und ich bin nur noch ein ganz gewöhnlicher Mensch wie die anderen. Ich bin kein Außenseiter mehr. Vielleicht besteht dann auch die Möglichkeit, daß wir unsere Beziehung wieder aufnehmen, wo sie 1963 unterbrochen wurde, und sie auf eine realistischere Basis stellen.
    Ich weiß, daß ich mich damals dumm benommen habe. Ich habe Dich rücksichtslos unter Druck gesetzt. Ich wollte Dich nicht akzeptieren, wie Du bist, sondern versuchte, aus Dir etwas anderes zu machen, etwas ebenso Monströses, wie ich es war. Damals glaubte ich theoretisch gute Gründe für diesen Versuch zu haben, aber diese Gründe waren natürlich falsch, sie mußten falsch sein, doch das habe ich erst eingesehen, als es zu spät war. Dir kam ich herrschsüchtig, überlegen, diktatorisch vor – ich, der sanfte, scheue, zurückhaltende Dav! Nur weil ich Dich umformen wollte. Und dann schließlich langweilte ich Dich. Gewiß, Du warst damals noch sehr jung. Du warst – soll ich es sagen? – oberflächlich, ungeformt, und Du wehrtest Dich gegen mich. Jetzt aber, da wir beide erwachsen sind, passen wir vielleicht besser zusammen.
    Ich kann mir kaum vorstellen, wie das Leben als normaler Mensch, ohne die Gabe, Gedanken zu lesen, für mich aussehen wird. Im Augenblick weiß ich nicht mehr recht weiter, suche nach einer Definition meiner selbst, suche Strukturen. Ich erwäge ernsthaft, der römisch-katholischen Kirche beizutreten. (Ein guter Christ bin ich, nicht wahr? Das ist das erste, was ich davon höre! Der Weihrauchmief, das Gemurmel der Priester – ist es wirklich das, was ich will?) Oder vielleicht auch der Episcopalkirche, ich weiß es nicht. Ich will jedenfalls der Gemeinschaft der Menschen angehören. Außerdem möchte ich mich wieder verlieben, möchte zu einem anderen Menschen gehören. Sehr vorsichtig, sehr behutsam habe ich jetzt, nach einer lebenslangen Feindschaft, Kontakt mit meiner Schwester Judith aufgenommen; zum erstenmal fühlen wir uns sozusagen verbunden, und das ist sehr ermutigend für mich. Aber ich brauche mehr: Ich brauche eine Frau, die ich lieben kann, nicht nur sexuell, sondern auch anders. Das habe ich bisher nur zweimal in meinem Leben gehabt, einmal mit Dir, und einmal ungefähr fünf Jahre später mit einem Mädchen namens Toni, die ganz anders war als Du, und beide Male hat meine Gabe alles verdorben, einmal, weil ich dadurch zu nahe herangekommen war, und einmal, weil ich nicht nahe genug herankommen konnte. Jetzt, da ich meine Gabe verliere, da sie stirbt, ergibt sich vielleicht endlich die Möglichkeit einer normalen menschlichen Beziehung zwischen uns, von der normalen Sorte, wie normale Menschen sie haben. Denn ich werde normal werden. Oh, wie normal ich dann sein werde!
    Ich denke oft an Dich. Du bist jetzt, glaube ich, fünfunddreißig, nicht wahr? Das kommt mir sehr alt vor, obwohl ich selbst schon einundvierzig bin. (41 klingt irgendwie nicht so alt!) Ich sehe Dich immer noch als Zweiundzwanzigjährige. Du wirktest sogar noch viel jünger: sonnig, offen, naiv. Das war natürlich ein Fantasiebild, das ich mir von Dir machte; ich hatte ja nur Äußerlichkeiten, an die ich mich halten konnte, meine Gabe versagte bei Dir, daher dachte ich mir eine Kitty zurecht, die vermutlich gar nicht die wirkliche Kitty war. Wie dem auch sei, jetzt bist Du fünfunddreißig. Ich kann mir vorstellen, daß Du jünger aussiehst. Bist Du verheiratet? Natürlich! Führt Ihr eine glückliche Ehe? Viele Kinder? Bist Du noch verheiratet? Wie heißt Du denn jetzt, und wo wohnst Du, und wo finde ich Dich? Wirst Du Dich mit mir treffen können, obwohl Du verheiratet bist? Irgendwie habe ich das Gefühl, daß Du keine absolut treue Ehefrau bist – kränkt Dich das? –, also müßte es in Deinem Leben für mich einen Platz geben, als Freund oder als Liebhaber. Siehst Du Tom Nyquist noch? Hast Du noch lange mit ihm Verbindung gehabt, nachdem wir beide uns getrennt hatten? Warst Du mir böse wegen der Dinge, die ich Dir in jenem Brief über ihn berichtet habe? Falls Du geschieden sein solltest, oder falls Du überhaupt nicht verheiratet bist, würdest Du dann jetzt mit mir zusammenleben wollen? Nicht als meine Frau, noch nicht, aber als Lebensgefährtin?

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