Es war einmal ein Mord: Ein Hänsel und Gretel-Krimi (German Edition)
nach strammen Korsetts verlangte, widersetzt und sich stattdessen auf fließende Linien verlegt, mit deren Hilfe sich das Gewebe durch sein Eigengewicht sanft auf den natürlichen Kurven und Senken einer weiblichenFigur niederließ. Das Ergebnis war erstaunlich bequem, wenn auch etwas unstrukturiert. Ausnahmsweise und in Anbetracht der provinziellen Natur der Veranstaltung beschloss Gretel, dass Bequemlichkeit durchaus angemessen sei. Außerdem hatte sie stets das Gefühl, dass der warme Braunton des Gewands ihr einen gesunden Schimmer ins Gesicht zauberte.
Über das unmittelbar drohende Starkbierfest in Kenntnis gesetzt, hatte Gretel sich Madame Renoirs Frisierkunst unterworfen, sodass sie jetzt nur noch ein lustiges kleines Pillbox-Hütchen in ihrer Haartracht befestigen musste, und schon war sie gewappnet, sich der undankbaren Öffentlichkeit zu stellen – jedenfalls so gut gewappnet, wie sie es nur sein konnte.
Auch die Sonne hatte offenbar begriffen, welche Stimmung an diesem Tag gefragt war, und strahlte vom Himmel. Auf dem Weg in Richtung Königsplatz tat Gretel ihr Bestes, ihre wachsende Verdrießlichkeit im Zaum zu halten. Das Starkbierfest hatte einen Umtausch der Fahrkarten notwendig gemacht, die zu kaufen Hänsel entgegen aller Erwartung gelungen war, und die geplante Reise nach Bad am See um vierundzwanzig Stunden aufgeschoben. Der Verzug mochte nicht sonderlich lang sein, aber Gretel hatte es aus zwei Gründen eilig, wegzukommen. Erstens: Je rascher sie den Fall löste, desto eher konnte sie Geld aus Frau Hapsburg herausholen, und den Troll aufzuspüren schien derzeit die beste Möglichkeit zu sein, überhaupt irgendwelche Fortschritte zu machen. Zweitens: Mit etwas mehr Abstand zum Sommerschloss würde sie sich auf der Stelle entschieden wohler fühlen. Ihre Flucht war zweifellos bemerkt worden, und sie konnte davon ausgehen, dass irgendwann Soldaten oder Feldgendarmen erscheinen und nach ihr suchen würden.
Wenigstens konnte sie sich darauf verlassen, dass die Hoheiten dem Starkbierfest nicht beiwohnen würden. Tatsächlich galt es für jemanden, der auch nur einen Tropfen königlichen Blutes in den Adern hatte, als ausgesprochen schlechtes Benehmen, sich auch nur in der Nähe solch bäuerlich-derben Belustigung sehen zu lassen. Dennoch wollte Gretel auf der Hut sein.
Die Bürger hatten Gesternstadt mit freudiger Begeisterung für das Fest geschmückt. Blumenkästen, an normalen Tagen zart erblühend, schäumten nun geradezu über vor bauschigen, bunten Blüten. Wimpel hüpften im Frühlingswind. Fahnen flatterten. Und Gretel stellte fest, dass sie die einzige Person war, die keine traditionelle Kleidung trug, ein Umstand, den zu bedauern sie sich schlicht weigerte. Die Straßen brodelten vor Menschen. Frauen verteilten Blumen und Bänder. Männer umklammerten bunt bemalte Maßkrüge in freudiger Erwartung des bevorstehenden Freibiers. Kinder hüpften possentreibend umher, nachdem sie entweder durch Prügel oder Bestechung überzeugt worden waren, so pittoresk wie möglich auszusehen. Sogar die Hunde trotteten ganz reizend einher und verzichteten darauf, sich wie üblich inbrünstig der Defäkation vergangener Zeiten oder der öffentlichen Unzucht hinzugeben.
»Guten Morgen, Fräulein Gretel!«, rief eine fröhliche Stimme, als Gretel von der mit Kopfsteinpflaster ausgelegten Kleinstraße auf den Königsplatz trat – den Marktplatz, wie er sinnigerweise heißen sollte. Sie drehte sich um und sah, dass Herr Pfinkle, der Apotheker, und seine Gattin, die Schneiderin, ihr zulächelten. Arm in Arm schlenderten die Pfinkles dahin, ein Abbild reinsten Eheglücks, obwohl weit und breit bekannt war, dass Herr Pfinkle ein Schürzenjäger war.
»Ja, guten Morgen«, entgegnete Gretel und musste daran denken, was für ein Unsinn doch all dies Glücksgeheuchel war.
»Einen wundervollen Morgen, Fräulein!«, rief da schon die üppig gebaute Schulmeisterin Lena Lange und winkte mit solch offenkundiger joie de vie mit einer bebänderten Hand, dass man in einer Million Jahren nicht geglaubt hätte, dass ihr gleich dreimal das Herz gebrochen worden war und sie deswegen zweimal aus dem Fluss hatte gefischt werden müssen, in den sie gestiegen war, um dem tristen irdischen Dasein ein Ende zu setzen.
Heuchelei, dachte Gretel. Lug und Trug! So wie die hübsch bemalten, blumengeschmückten Hausfronten die Geheimnisse der Haushalte verbargen, versteckten der Sonntagsstaat und die gezwungene Heiterkeit der
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