Es war einmal ein Mord: Ein Hänsel und Gretel-Krimi (German Edition)
der mit ›Per‹ anfängt.«
Hänsel rumorte eine Weile vernehmlich im Speisezimmer, ehe er mit einem Arm voller schlampig zusammengefalteter Papiere zurückkehrte.
»Das ist alles«, sagte er. »Einen Troll kann ich dir nicht versprechen, aber da drin sind viele Seen und Flüsse.«
»Komm, hilf mir, sie auf dem Boden auszubreiten.«
»Ziemlich mager, oder?«
»Wir müssen irgendwo anfangen.« Gretel betrachtete die endlosen Linien und Symbole, die nun den Boden bedeckten. »Wo bist du, Herr Troll? Wo bist du?«
»Da sind überall Flüsse und Seen.«
»Es kann nicht allzu viele Wegestunden entfernt sein. Woher sollte jemand, der mehr als eine Tagesreise von Gesternstadt entfernt lebt, überhaupt von Frau Hapsburgs Katzen wissen?«
»Da könnte was dran sein.« Hänsel kniete sich solidarisch neben seine Schwester auf den Boden und gestikulierte mit der glimmenden Zigarre. »Was ist damit? Schau, Lipsteinsee – sieht hübsch aus mit all den kleinen Dörfern rundherum. Almwiesen. Könnte sogar mir gefallen, da Urlaub zu machen.«
»In meiner Vorstellung von Urlaub sind Trolle nicht enthalten.«
»Oder hier … Bad am See. Wie wäre es damit? Das ist ein Heilbad.«
»Besuchen Trolle Heilbäder?«
»Nein, aber du, wenn du die Gelegenheit hast.«
»Das ist eine Geschäftsreise.«
»Mag sein, aber …«
Gretel nahm den Blick von den Karten und konzentrierte sich auf ihren Bruder. Es war Jahre her, seit sie gemeinsam Urlaub gemacht hatten, und der sehnsüchtige Beiklang in seiner Stimme war nicht zu überhören. Zudem ließ sich nicht leugnen, dass er eine Pause von seinem Gasthof-Daheim-Gasthof-Alltag brauchen konnte. Und ein Heilbad hörte sich teuflisch verlockend an.
»Also Bad am See«, sagte Gretel und faltete die Karten mehr schlecht als recht zusammen. »Du machst dich ins Postkutschenbüro und besorgst uns Fahrkarten, und dann sehen wir mal, ob wir die Koffer auf dem Speicher ausbuddeln können.«
»Und was tust du währenddessen?«
»Madame Renoirs Schönheitssalon aufsuchen.«
»Ist das nicht ein bisschen so, als würde man einen Hausputz veranstalten, ehe man die Putzfrau reinlässt?«
»Ich erwarte nicht, dass du das verstehst, Hänsel. Du bist nur ein Mann. Aber wenn ich meinen Kadaver zu allen möglichen intimen und stimulierenden Behandlungen vor Fremden entblößen soll, habe ich vorher noch einiges zu tun. Ich gebe dir das Geld für die Karten, aber geh nicht, ich wiederhole, geh nicht ins Gasthaus, ehe du die Fahrkarten gekauft hast. Hol sie, und komm direkt wieder nach Hause. Hast du verstanden?«
»Fahrkarten. Nach Hause.« Hänsel versuchte sich an einem gewinnenden, jungenhaften Gesichtsausdruck. »Und dann ins Gasthaus?«
Gretel verzog das Gesicht. »Wenn es dich davon abhält, mir so verstörende Grimassen zu schneiden – von mir aus.«
*
Madame Renoirs Schönheitssalon war ein relativ neu eingeführtes Etablissement in Gesternstadt, in dem Gretel von dem Tag an, an dem es seine wohlduftenden Türen geöffnet hatte, mit dem größten Vergnügen zur Stammkundin geworden war. Es war, als hätte ein winziger Hauch Pariser Finesse die Stadt gestreift, die dadurch zu einem unermesslich viel besseren Ort geworden war. Gretel hatte die routinemäßige Pflege ihrer weiblichen Physis stets als lästige Pflicht empfunden, doch sie hatte auch schon vor langer Zeit erkannt, dass sie die Mühe auf sich nehmen musste, wollte sie sich der Welt professionell und gelackt präsentieren. Folglich war sie über alle Maßen erfreut, dass sie sich nun in die fähigen, manikürten Hände von Madame Renoir und ihren Mitarbeiterinnen begeben konnte.
Bald entspannte sie sich in einem zweckmäßigen Stuhl unter einer mitleidlosen Gaslaterne, während die Eigentümerin geschickt an ihren Augenbrauen zupfte.
»Mon Dieu , Fräulein Gretel, dein Besuch bei uns findet nicht einen Moment zu früh statt.«
Gretel sprach mit zusammengebissenen Zähnen, während die Pinzette ihre Arbeit tat. »Ich war in letzter Zeit extrem beschäftigt.«
»So, vielleicht wieder einer deiner interessanten Fälle?«
»Au! Ganz recht.«
»Alors! Was für ein aufregendes Leben du führst. Halt bitte still.«
»Au!« Gretel gab genauso gern an wie jeder andere auch, und sie war der Ansicht, dass ihre erfolgreiche Flucht vor den Löwen eine Anekdote wert sein sollte, aber die Erinnerung an Bruders Todesgeröchel war noch zu frisch, um mit einem guten Gefühl davon zu erzählen. »Ach, du weißt doch, man
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