Es war einmal ein Mord: Ein Hänsel und Gretel-Krimi (German Edition)
Himmels willen, sollte sie sonst einen Finger herbekommen? Hänsel würde so viel Bier und Schnaps intus haben, dass er den Schmerz gar nicht spürte. Außerdem war er nicht auf den Finger angewiesen. Er würde weiterhin seiner Lieblingsbeschäftigung nachgehen und Bierkrüge stemmen oder Schnapsgläser halten können.
Der kleine Finger der linken Hand sollte es sein. Natürlich brauchte Hänsel nie zu erfahren, wer ihn um seinen Finger erleichtert hatte. Gretel würde sich eine Geschichte über einen geheimnisvollen Eindringling ausdenken und behaupten, ein Teil ihres Geldes sei gestohlen worden. Die Aufregung würde sich bald wieder legen. Und mit ein bisschen Glück würde das Hotel ihren Aufenthalt nicht berechnen. Ja, das war rundherum die beste Lösung, daran hatte sie keinen Zweifel.
5
N achdem Gretel ihren Bruder schlafend auf dem Flur vorgefunden hatte, hatte sie ihn überredet, ihr seinen Schlüssel anzuvertrauen. Deshalb hatte sie es sich nun in seinem Zimmer gemütlich gemacht, während sie darauf wartete, dass er aus dem Gasthaus zurückkam. Irgendwann fielen ihr die Augen zu. Sie schlief tief und fest und erwachte erst, als die Uhr auf dem Platz Mitternacht schlug. Benommen verfluchte sie Hänsel dafür, so lange fortzubleiben. Ob er wieder umgekippt war, ehe er sein Bett erreicht hatte?
Verwünschungen murmelnd, schlüpfte sie in ihre Schuhe, versteckte das Messer am Körper und verließ das Hotel, um sich auf die Suche nach dem Trunkenbold zu machen. Auf der Türschwelle stieß sie mit einem kleinen, stämmigen Kerl zusammen, in dem sie ihren Reisegefährten von vor ein paar Tagen erkannte.
»Guten Abend, Herr Bechstein«, grüßte sie im beiläufigsten Tonfall, den sie zustande brachte.
Der Geschäftsmann starrte sie nur an und wusste sie offenkundig nicht unterzubringen.
Gretel versuchte ihm auf die Sprünge zu helfen. »Die Postkutsche aus Gesternstadt.«
»Ach ja.« Bechstein nickte. Die Information schien ihn zu beruhigen. Er murmelte ebenfalls einen Gruß, blickte unruhig über die Schulter und huschte an Gretel vorbei ins Hotel.
Gretel rief sich den poltrigen Mann ins Gedächtnis, der während der Reise alle anderen lautstark gelangweilt hatte. In derverunsicherten Kreatur, der sie gerade begegnet war, hätte man diesen Prahlhans niemals wiedererkannt. Nein, verbesserte sie sich: nicht verunsichert, sondern verängstigt. Zutiefst verängstigt, um genau zu sein.
Die Nacht war klar, still und kalt, und Gretel bereute schon bald, dass sie sich nicht die Zeit genommen hatte, sich einen warmen Mantel überzuwerfen. Von einem älteren Kellner abgesehen, der damit beschäftigt war, die Außenbestuhlung des Kaffeehauses hereinzuholen, war der Platz verlassen. Der Mond schien hell, und der Lichtschein, der aus den Fenstern der Häuser rund um den Platz drang, malte kleine helle Flecken auf den Boden.
Gretel machte eine Runde und gab sich Mühe, nicht allzu verstohlen zu wirken, als eine Bewegung in einem Blumenbeet ihre Aufmerksamkeit erregte. Sie ging näher heran. Das ummauerte Beet war dicht mit Frühlingsblumen bepflanzt, die seltsamerweise wogten und zuckten, als würde sich eine Armee Maulwürfe unter ihnen hindurchgraben. Als Gretel noch näher kam, erkannte sie, dass Hänsel inmitten der Pflanzen lag und wild um sich schlug.
»Hänsel?«, zischte sie ihm zu, um das Ausmaß seiner Trunkenheit zu erkunden.
Er reagierte nicht.
»Hänsel!«, versuchte sie es noch einmal.
Seine einzige Antwort bestand in einem melodischen Furz.
Gretel sah sich in der Umgebung um. Wie es schien, war sie allein mit ihrem sturzbetrunkenen Bruder. Sie zog das Messer hervor. Die Klinge funkelte im Mondschein. Übelkeit schwappte wie eine Woge kalten Wassers über Gretel hinweg, als sie nach Hänsels schlaffer Hand griff und sie erst so, dann wieder so legte, auf der Suche nach einer idealen Positionzur Amputation des Fingers. Sie musste einen glatten Schnitt führen. Schließlich entdeckte sie einen großen, flachen Stein, den sie unter Hänsels Hand legte. Ihr Atem ging stockend, und sie musste sich ins Gedächtnis rufen, warum sie eine derart drastische Maßnahme ergriff. Es gab keine andere Möglichkeit, an die entscheidende Information zur Lösung des Falles zu gelangen. Und wenn sie ihn nicht lösen konnte, würde sie Frau Hapsburg keine weiteren Mittel mehr entlocken können. Und nach dem teuren Aufenthalt im Heilbad, den diversen Bestechungsgeldern und den übrigen Kosten, für die sie hatte
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