Es war einmal ein Mord: Ein Hänsel und Gretel-Krimi (German Edition)
Taschentuch auf denrußbedeckten Boden fallen lassen, und ihre Schluchzer verhallten wie die Rufe eines vorüberziehenden Vogels, als sie eilends davonrannte. Roland machte Anstalten, ihr zu folgen, überlegte es sich aber noch einmal anders. Er bückte sich, hob das spitzengesäumte Tuch auf und hielt es zart an seine Lippen, ehe er es in die Tasche steckte und trübsinnig in die Richtung seines Hauses davonstapfte.
*
Zwei Stunden später lag Gretel in einem heißen Bad. Seifenblasen bewahrten ihre Tugend, als Hänsel eine weitere Ladung dampfenden Wassers in die Wanne goss. Zuvor war sie hungrig über die köstliche Schweinskasserolle und die eingemachten Pflaumen hergefallen, die Hänsel vorbereitet hatte. Schweigend und schwelgend hatten die schwergewichtigen Geschwister getafelt, das köstliche Mahl genossen und sich im Frieden und der Sicherheit ihres eigenen Heims gesuhlt.
Nun schwirrte Gretel der Kopf. Sie musste ihre Gedanken zur Ruhe bringen, ehe sie versuchen konnte, dem, was sie erfahren hatte, einen Sinn abzuringen. Und die beste Möglichkeit, ihren Geist zu besänftigen, bestand darin, ihn ruhen zu lassen oder, wenn möglich, zu verhätscheln. Oder vielmehr ihren Körper zu verhätscheln. Sie quälte sich noch immer mit den Nachwirkungen der Anstrengungen im Gebirge und des unnachgiebigen Sitzplatzes im Wollwagen herum. Duftende, schäumende Seife war vonnöten. Sie hatte Hänsel so lange zugesetzt, bis er die schwere Eisenwanne ins Wohnzimmer vor das frisch entfachte Feuer geschleppt hatte, und nun endlich lag sie im Badewasser, eingehüllt in den Duft von Orangenblüten und Lavendel, und ihre Muskeln entspannten sich, ihreGelenke bewegten sich lockerer, und sie fühlte sich imstande, das Rätsel anzupacken, vor dem sie stand. Beinahe jedenfalls.
»Setz dich noch nicht, Hänsel.«
»Was denn noch? Ich bin erledigt.«
»Das wird dir gefallen. Ich weiß, es wird dir gefallen.«
»Dann los, ehe ich vor Erschöpfung umkippe. Dann stehe ich nicht wieder auf, ehe mich der Gedanke ans Frühstück hochtreibt.«
»Wermut. Perfekt gekühlt – es gibt haufenweise Eis im Eishaus – und zwei fette Oliven pro Glas, wenn du so nett wärest.«
Hänsels Miene hellte sich auf. »Mit Abstand die beste Idee, die du heute hattest!«
Gretel lauschte, als er im Haus rumorte, die nötigen Gegenstände und Zutaten holte, um die Cocktails zu bereiten, und dabei glücklich vor sich hin murmelte. Für einen Moment hatte sie ein schlechtes Gewissen bei dem Gedanken daran, was sie ihm beinahe angetan hätte. Noch immer konnte sie das Gewicht seiner rundlichen Hand in der ihren fühlen. Hätte sie das wirklich über sich bringen können, fragte sie sich, nur um sich gleich darauf seufzend einzugestehen, dass sie vermutlich in der Tat dazu fähig gewesen wäre. Und hätte sie es getan, dann würde ihr Bruder jetzt nicht seine meisterhaften Wermutdrinks bereiten. Im Grunde waren sie beide glücklich davongekommen.
Aber es blieb die Tatsache, dass Gretel nach wie vor nur im Besitz ihrer eigenen Finger war. Irgendwo musste sie noch einen weiteren auftreiben. Von irgendwem. Sie glitt tiefer in die Wanne, und ihr Bauch und ihre Knie erhoben sich wie Atolle über den Schaum. Es konnte kein Zufall sein, überlegte sie, dass der Leiche auf Hunds Grundstück ein Finger gefehlthatte. Einer der Punkte auf ihrer Liste der Dinge, die vielleicht wirklich zu irgendetwas führen konnten, war folglich, den gefürchteten Feldobergendarmen Strudel aufzusuchen und die Identität des Kadavers festzustellen. Irgendwann musste die unglückliche Seele dem Troll begegnet sein oder jemandem, der im Auftrag des Trolls agierte. Und der Troll wusste, wer hinter den Katzen her war. Irgendwie griff das alles ineinander, auch wenn Gretel sich augenblicklich nur eingestehen konnte, dass das unförmige Gewand ihrer verknüpften Theorien in Gefahr war, sich bei genauerer Betrachtung in seine Fasern aufzulösen.
Hänsel kehrte mit den Wermutdrinks zurück.
»Hier, bitte.« Er reichte Gretel einen davon. »Koste und sag mir, das wäre nicht der beste Drink, den du je genommen hast. Nur zu, trau dich.« Er nahm eine Zigarre aus der Tasche und biss das Ende ab.
Gretel kostete mit geschlossenen Augen.
»Himmlisch«, gestand sie. »Einfach himmlisch. Aber wie du das zusammen mit dieser abscheulichen Zigarre genießen kannst, ist mir ein Rätsel.«
»Jahrelanges Gaumentraining«, erklärte Hänsel. »Also, war’s das? Kann ich mich jetzt gefahrlos
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