Es war einmal ein Mord: Ein Hänsel und Gretel-Krimi (German Edition)
furchtsamen Moment lang wälzte sie den Gedanken, er könnte sie im Stich lassen. Sollte er nicht wie versprochen auftauchen, sähen die Dinge sehr, sehr schlecht für sie aus. Und für Hänsel, den sie allein zurückgelassen hatte, auf dass er sich irgendwelche ungereimten Ausreden für ihre Abwesenheit einfallen ließ.
Mehr und mehr ging Gretel auf, dass es nicht damit getan war, Frau Hapsburgs Katzen zurückzubringen. Sie musste auch einen Beweis dafür finden, dass sie und Hänsel schuldlos an den jüngsten Morden waren, den beiden in Gesternstadt und dem in Bad am See.
Regenwasser bahnte sich einen Weg durch das dichte Laub des Baumes und griff Gretels Strohhut an, der bald jede Form verlor. Sie überlegte, ob sie ihn abnehmen sollte, als sie auf der Straße Hufe klappern hörte. Für den Fall, dass jemand anders als Roland die Straße herunterkam, drückte sie sich an den Baum, so flach sie konnte, und lugte hinaus in den unermüdlichen Regen. Sekunden später fetzte ein Brauner, der ein Renn-Gig zog,um die Ecke und kam schlitternd an der Furt zum Stehen. Roland kämpfte darum, das rastlose Tier ruhig zu halten. Erschrocken über dieses Schauspiel kroch Gretel aus ihrer Deckung.
»Ich bitte um Entschuldigung wegen der Verspätung«, sagte Roland. »Ich hatte Schwierigkeiten beim Anspannen.«
»Bist du völlig verrückt geworden?«, schimpfte Gretel. »Ein Fuhrwerk, habe ich gesagt. Irgendein vernünftiges Transportmittel!«
»Das war alles, was ich in der kurzen Zeit auftreiben konnte.«
»Ein Renn-Gig? Und dann dieses Tier – ist es überhaupt zugeritten?«
Der junge Hengst hatte Schaum vor dem Maul und schüttelte den Kopf, wütend über die Bissstange zwischen seinen Zähnen, während er voller Unruhe mit den Hufen trampelte.
»Du solltest lieber reinklettern, Fräulein. Er steht nicht gerne still.«
Das Gig war mit einem Sitz ausgestattet, ausreichend für den Fahrer und einen zierlichen, leichten Passagier. Gretel zog sich auf die beängstigend unsolide Vorrichtung und zwängte ihr pralles Gesäß auf den unzureichenden freien Platz. Das Pferd, aufgeschreckt von Gretels unbeholfenem Gezappel, versuchte sich in den Zugriemen umzudrehen, um nachzusehen, was hinter ihm vorging. Roland war gezwungen, das Tier voranzutreiben, um zu verhindern, dass die Gurte sich verhedderten.
Mit einem »Ja!« und einem kurzen Schlag der Zügel waren sie unterwegs, jagten über die Furt durch das schnell dahinströmende Gewässer und galoppierten hinaus aus Gesternstadt. Gretel drückte ihren Koffer und den Proviant mit einem Arm an die Brust und hielt sich mit dem anderen instinktiv an Roland fest. Inzwischen war sie froh darüber, dass sie sofest auf dem Sitz eingezwängt war und nicht so leicht hinausgeschleudert werden konnte. Nach einer halben Stunde jedoch breitete sich eine besorgniserregende Taubheit in ihren unteren Extremitäten aus. Der Hut war ihr längst vom Kopf geflogen und auf ein Feld voller Ziegen geweht worden, die ihn zweifellos zu einem Festmahl erkoren hatten. Schlamm spritzte mit jedem Schritt, den das Pferd tat, unter dem Rahmen des Gigs auf, genug, dass Gretels Röcke vollständig damit überzogen waren. Eine Unterhaltung war ebenso unmöglich wie der Verzehr von Proviant. Gretel konnte nicht mehr tun als sich festzuklammern, ihren Geist vor Bildern schrecklicher Unfälle zu verschließen und sich auf die vor ihr liegenden Aufgaben zu konzentrieren. Zumindest, sagte sie sich, hatte bei dieser Geschwindigkeit keiner der Gendarmen eine Chance, sie einzuholen. Sie würden Bad am See noch bei Tageslicht erreichen und konnten in die Berge hinauf zum Heim des Trolls klettern, ehe es dafür zu dunkel wäre.
Das Pferd schien kein Wesen aus Fleisch und Blut zu sein. Trotz seiner unangemessen schweren Fracht galoppierte es voran, als stammte es aus einer Familie unermüdlicher magischer Rösser. Gretel nahm sich vor, nach dem Stumpf eines Horns zu suchen, sobald sie angehalten hatten. Sie hatte noch nie ein Einhorn gesehen, hatte aber gehört, dass sie schnell und kraftvoll seien.
Roland erwies sich als ebenso kühner Reisegefährte. Während die Stunden und Meilen dahinzogen, beklagte er sich nie und richtete keine einzige Frage an sie, sondern steuerte das Gig geschickt um Schlaglöcher, Pfützen und verschreckte Schafe herum.
Als sie den Pass über Bad am See hinter sich hatten und sich an den Abstieg begaben, hatte der Regen wieder nachgelassen. Gretel hatte das sonderbare Gefühl, dass die
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