Es war einmal ein Mord: Ein Hänsel und Gretel-Krimi (German Edition)
Stattdessen zeigte sich hier die Kunstfertigkeit von Stuckateur und Dekorateur. Die Decke war mit formvollendeten Kränzen und erlesenen Rosen verziert, an denen funkelnde Kristallkandelaber baumelten, ein jeder im Überfluss mit Kerzen bestückt. Und tatsächlich war der Raum lichtdurchflutet, wodurch die meisterhaften Ölgemälde an den Wänden noch besser zur Geltung kamen, ebenso wie die exquisiten Seiden- und Damaststoffe, die in den Ecken und an den Trompe-l’œil-Fenstern drapiert waren; das erlesene Mobiliar, das samt und sonders dazu diente, den Proportionen des Riesen auf behagliche Art zu genügen, dennoch elegant und mit sorgfältig ausgearbeiteten Details und edler Oberfläche; die luxuriöse Polsterung der Sofas und Chaiselongues; die schimmernden, silbernen Kerzenhalter und die allerschönsten Zierfiguren aus schmuckvollem Porzellan. Alles zusammen erzielte eine Wirkung, die zugleich Opulenz und Zurückhaltung ausstrahlte. Unverkennbar hatte der Riese von seinen vielen Reisen nicht nur großen Reichtum mit nach Hause gebracht, sondern auch umfassende Kenntnisse und Verständnis für die feineren Dinge im Leben. Nun erschien es Gretel wie eine grausame Laune des Schicksals, dass er niemanden finden konnte, der bereit war, sein Dasein in Luxus und Fülle mit ihm zu teilen.
Der Riese setzte die Katzen wieder zurück in den Korb. Er tat es mit solch einer Behutsamkeit, dass Gretel zu dem Schluss kam, dass diese Sanftmut Teil seines Charakters sein musste. Welche Heldentaten und Schlachtensiege ihm seine gewaltige Größe und Muskulatur auch ermöglicht haben mochten, im Innern war er ein Kavalier, in jedem Sinne des Wortes.
»Fag, Fräulein, welchen Preif verlangft du für diefe Katfen?«
»Oh, Herr Riese, ich bin nicht in der Position zu handeln oder Forderungen zu stellen. Ich bitte Euch nur darum, dass Ihr mir gebt, was Ihr für angemessen erachtet. Ich gestehe jedoch, dass die Kunde von Eurer Großzügigkeit in diesen Dingen auch mich schon erreicht hat.«
Der Riese nickte, was die Quaste auf seinem Fes zum Wackeln brachte. Er klappte den Mund auf, um eine hübsche Summe Geld anzubieten, wie Gretel hoffte, als er von einem stürmischen Scheppern an seinem Eingangstor gestört wurde. Im Innern der Schlosshöhle war das Geräusch zehnmal so laut wie draußen, beinahe als stünden sie inmitten einer gewaltigen Trommel.
Gretels Hände flogen zu ihren Ohren. Der Riese legte dieStirn in Falten angesichts der unerwünschten Unterbrechung und stapfte durch den Gang davon. Gretel stellte fest, dass sie vorübergehend taub war und das Gespräch des Riesen mit wer auch immer Einlass begehrt hatte nicht belauschen konnte. Trotzdem war sie keineswegs überrascht, als Inge Peterson-Müller in den Raum geleitet wurde. Auch sie trug einen Korb mit Katzen, und der Riese brachte hinter ihr zwei weitere herein. Beim Anblick Gretels schnappte Inge zuerst nach Luft, um gleich darauf eine finstere Miene aufzusetzen. Doch ehe sie Gelegenheit bekam, sich zu äußern, stürzte Gretel sich auf die erschrockene Frau und schlang die Arme um sie.
»Ach, Inge!«, heulte sie mit einer Inbrunst, die sie für recht überzeugend hielt. »Meine liebe Freundin! Wie lange ist es her, seit wir einander zum letzten Mal gesehen haben? Welch ein Zufall, dass glückliche Umstände uns ein weiteres Mal zusammenführen!«
In Gretels Armen versteifte sich Inge und versuchte gleich darauf, sich freizustrampeln, doch ohne jeden Nutzen, bis Gretel Zeit gehabt hatte, ihr ins Ohr zu zischen: »Spiel mit, oder ich erzähle dem Herrn Riesen alles über die Männer und das Dynamit!«
Damit ließ Gretel von der verloren geglaubten Freundin ab, trat mit strahlender Miene einen Schritt zurück und fragte: »Geht es dir gut, meine Liebe?«
Mit Rollenspielen war Inge vertraut, und so schlüpfte sie übergangslos in die, die ihr aufgedrängt worden war.
»Wie du siehst, alte Freundin. Ich bin weit gereist und hoffe, mit dem Herrn Riesen ins Geschäft zu kommen, um meinem Glück auf die Sprünge zu helfen.«
»Wie ähneln sich doch unsere Geschichten«, sagte Gretel, der nur zu bewusst war, dass der Riese, wenngleich durch dieüberraschende Fülle an Katzen ein wenig abgelenkt, ihr Gespräch belauschte. »Und du hast so viele schöne Tiere hergebracht.«
»Ich hatte noch mehr.« Eine gewisse Schärfe schlich sich in Inges Stimme. »Aber einige wurden mir gestohlen.«
»Tatsächlich? Wie es scheint, ist in diesen finsteren Zeiten nichts und niemand
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