Es war einmal in New York / Nie wieder sollst du lieben
Rick?“
Francesca konnte nicht glauben, dass sie einen solch dummen Fehler gemacht hatte. „Es war doch nur eine winzige Irreführungals kleiner Vorsprung, bis ich den wahren Mörder gefunden habe!“
Glücklicherweise konnte Rourke das nachvollziehen. „Sie sind beide meine Brüder. Das ist ein gefährlicher Drahtseilakt, den du da vollziehst, wenn du mit Bragg befreundet bleiben willst und gleichzeitig mit Hart verlobt bist.“
Ihre Freundschaft mit Rick zu beenden, kam nicht infrage. Doch Freunde logen einander nicht an. Dankbar sah sie Rourke an. „Danke, Rourke. Danke für deine Freundschaft und Fürsorge. Und für dein Verständnis.“
Er grinste und zeigte dabei ein freches Grübchen. „Schließlich sind wir so gut wie verwandt, und es ist meine Pflicht, mich um dich zu kümmern, solange mein Stiefbruder zu unachtsam oder zu dumm dazu ist.“
Zum Dank umarmte Francesca ihn, und er errötete. Dann ging sie wieder zum Schreibtisch und griff nach der Nachricht. „Fährst du zufällig downtown? Ich wollte Hart diese Nachricht zukommen lassen.“
„Eigentlich hatte ich vor, in die Dakotas zu fahren. Aber ich habe frei und kann das schon erledigen“, erwiderte Rourke liebenswürdig.
Francesca hob die Brauen. Die meisten New Yorker nannten den abgelegenen und dünn besiedelten Westteil der Stadt die Dakotas. Sie wusste genau, warum Rourke eine solche Fahrt auf sich nahm. Möglichst beiläufig sagte sie: „Richte Sarah Grüße von mir aus, ja?“
Verlegen sah er zur Seite. „Ich habe sie oder Mrs Channing eine ganze Zeit nicht gesehen.“
Als Francesca daran dachte, dass sie Ehestifterin hatte spielen wollen, musste sie lächeln. Längst war Sarah Channing eine gute Freundin von ihr geworden, die beste nach ihrer Schwester Connie. Auch wenn Sarah den meisten Menschen unauffällig, schüchtern und zurückhaltend erschien, kannteFrancesca sie inzwischen sehr gut. Und diese schüchterne, unauffällige junge Frau war ein ebenso unabhängiger Geist wie Francesca. Sie lebte nach ihren eigenen Vorstellungen und weigerte sich, die Rolle der bescheidenen, heiratswütigen jungen Dame zu spielen. Tatsächlich war sie eine brillante Künstlerin. Bereits bei ihrer ersten Begegnung verhielt sich Rourke Sarah gegenüber sehr aufmerksam und zuvorkommend. „Wir sollten ein Essen zu viert planen. Wie lange bist du in der Stadt?“, fragte sie.
Rourke musterte sie und zuckte übertrieben gleichgültig die Schultern, als hätte er kein besonderes Interesse an einem solchen Abend. „Ich habe nichts dagegen. Schlag einen Abend vor.“
Francesca gab ihm die Nachricht, sie hatte das Blatt Papier gefaltet. „Gern. Wie wär’s mit Samstagabend um neun, sagen wir im Sherry Netherland?“
„Du bist so leicht zu durchschauen, Francesca!“
Mit großen, unschuldigen Augen sah sie ihn an. „Was gibt’s da zu durchschauen? Ich habe dich wochenlang nicht gesehen, beim letzten Mal, als wir zusammensaßen, war ich noch mit meinem letzten Fall beschäftigt. Und Sarah habe ich auch lange nicht gesehen – also schlage ich zwei Fliegen mit einer Klappe.“
Lächelnd schüttelte er den Kopf.
Gerade als sie mit Rourke hinausgehen wollte, erinnerte sie sich an den Fleck auf Harts Jacke und nahm sie vom Stuhl. Sie würde sie Alfred zur Reinigung übergeben.
Beim Hinausgehen fiel ein weißes Kärtchen aus einer der Taschen.
Francesca hob es auf und sah, dass es der Kontrollabschnitt einer Zugfahrkarte war. Als sie den Abschnitt auf den Schreibtisch legte, fiel ihr Blick auf den Städtenamen: Philadelphia.
Ihre gute Laune verflog. Sie versuchte sich damit zu beruhigen, dass es sich um eine alte Fahrkarte handeln musste. Seit ihrer Verlobung Ende Februar war Hart nicht mehr in Philly gewesen. Doch als sie das Datum oben auf dem Abschnitt erblickte, wurde ihr übel.
1. Juni.
„Francesca?“, fragte Rourke besorgt.
Sie hörte ihn kaum. Hart hatte behauptet, nach Boston zu fahren. Doch gestern war er aus Philadelphia zurückgekommen. Den Beweis dafür hielt sie in der Hand.
Er hatte sie angelogen.
4. KAPITEL
Dienstag, 3. Juni 1902
10.00 Uhr
Leigh Anne Bragg war eine zierliche Frau mit unglaublich dunklem Haar, grünen Augen und hellem Teint. Ihr ganzes Leben hatte man sie als große Schönheit gerühmt. Doch als sie nun Rot auf Wangen und Lippen auftrug, sah ihr eine hohlwangige Fremde aus dem Spiegel entgegen, eine glanzlose Frau, die sie nicht wiedererkannte. Unter ihren Augen zeigten sich dunkle Ringe, denn obwohl sie
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