Es wird Tote geben
nie wirklich …“
„Dann vergessen Sie jetzt bitte kurz diesen Filmdreck und hören Sie auf die Stimme der Reife und Erfahrung.“ Schäfer griff sich sein Glas und nahm einen großen Schluck. „Wir leben hier in einem beschaulichen Ort mit gerade einmal fünftausend Einwohnern, wo es seit sieben Jahren keinen Mord mehr gegeben hat, wo kein großes soziales Gefälle herrscht. Wo es keine religiösen oder ethnischen Konflikte gibt, wo die Leute im Allgemeinen sehr gut miteinander auskommen. Da gibt es sowohl erfahrungsgemäß als auch statistisch andere Bewältigungsstrategien für innere oder äußere Konflikte als Mord und Totschlag. Also verschwenden wir unsere Zeit und Energie nicht mit haltlosen Spekulationen, sondern ermitteln die Fakten … und die sagen in unserem Fall, dass es eine Selbstmörderin gibt, die Drogen konsumiert hat, und ein weiteres Mädchen, das aus welchem Grund auch immer von einem Siloturm gestürzt ist, wobei die zweite anwesende Person höchstwahrscheinlich ein anderer Jugendlicher war, der aus bislang unbekannten Gründen das Weite gesucht hat … Ja, so weit sind wir.“
„Und das Video, das uns geschickt worden ist?“
„Ist per se noch keine Straftat“, meinte Schäfer und fragte sich, warum er in diesem Diskurs die Überlegenheit faktenorientierter Ermittlungsarbeit zu verteidigen hatte. Natürlich hatte dieses Video etwas zu bedeuten. Es war beängstigend, abscheulich. Es ließ ihn zur Waffe greifen, wenn er an die Person dachte, die diesem Mädchen beim Sterben zugesehen hatte, aber … er war erschöpft … und das nicht nur in diesem Augenblick.
„Aber Sie glauben ja selbst nicht, dass da jemand zufällig mit einer Kamera herumgestanden ist, oder?“
„Glauben …“ Schäfer brachte den Satz nicht fertig, weil er sich in der Betrachtung des Raben verlor, der vor dem Aschenbechernapf stand und der Katze zunickte, als würde er ihr Verhalten aufs herzlichste begrüßen. Ein Irrenplatz: Zwei naturgemäß befeindete Tiere haben eine Affäre, Düsseldorfer Drehbuchautoren und junge Provinzkriminalistinnen saufen meinen Wein weg und wollen mir einreden, dass hier Serienmörder frei herumlaufen. Konnte nicht wenigstens zwischendrin einmal der Frieden herrschen, wegen dem er hierherversetzt worden war? Ring ring. Inspektor Schreyer. Um die Uhrzeit?
„Freund Schreyer, was gibt’s? … Wovon reden Sie? … Ach, Beziehungen … eingehackt haben Sie sich hoffentlich nirgends … Und bei denen waren ebenfalls Drogen im Spiel? … Ja, wenn Sie es mir schicken, schaue ich es mir spätestens morgen an … Gut, danke … Ja, die waren gestern da, sind aber gleich in der Früh weiter … Mach ich, danke, Schreyer, gute Arbeit.“
„War das dienstlich?“, wollte Auer wissen, die sich während Schäfers Telefonat ihr Glas bis zum Rand angefüllt hatte. Jetzt war dann aber Schluss: Dieser Blaufränkische 2008 war gewiss besser als das, was sie bei ihren Disco-Besuchen mit Cola aufspritzte, um es überhaupt trinken zu können, aber hier gab es eine Hierarchie.
„So in etwa … und Sie trinken jetzt aus und gehen heim“, Schäfer stand auf und begann, den Tisch abzuräumen, „damit wir morgen fit sind.“
„Sind Sie sicher?“, säuselte Auer und Schäfer verschwand ohne eine Antwort durch die Gartentür. In der Küche kühlte er sich das Gesicht mit kaltem Wasser und trank dabei gleich einen halben Liter vom Hahn. „Heiliger Antonius, bewahre mich vor sündiger Versuchung“, murmelte er, legte den Kopf in den Nacken und atmete ein paar Mal tief durch. Diese Frau dort draußen auf seiner Terrasse: Ende zwanzig, hübsch, intelligent, ein durchtrainierter Körper, ein blaufränkisch lasziver Geist und offensichtlich eine Schwäche für erfahrene Kriminalisten. Wäre sie am Tag zuvor dabei gewesen, hätte Schäfer höchstwahrscheinlich nach langer Zeit wieder einmal Sex gehabt. Und das schlechteste Gewissen seit … das wollte er gar nicht ergründen. Hinfort mit ihr! Und komm ihren Lippen nicht zu nah, du Geilspecht! Ach ja: Mit dem Auto lässt du sie auch nicht mehr fahren.
Kurz nach zehn entzündete er doch noch ein Feuer. Ein kleines, wie er sich selbst ermahnte, nachdem er den merklich geschwundenen Vorrat an Winter-Brennholz hinter dem Haus betrachtet hatte.
„Ich sublimiere“, sprach er zur Katze, die um seine Beine strich, während er Späne von einem Fichtenscheit spaltete und auf ein Papierknäuel in der Feuerstelle legte. „Für unbelesene Wesen wie dich heißt
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