Es wird Tote geben
Raums an. Wenn sein Laienwissen ihn nicht täuschte, war das Rigips. Wer baute einen Tresor in eine Gipskartonwand ein? Weiter: vier Laternen beschädigt, zwei Gullydeckel herausgerissen … Wenn das so weiterging, würde er Sanders’ Angebot annehmen. In diesem stumpfsinnigen Film mitspielen und sich einbilden, in einem tatsächlichen Kriminalfall zu stecken.
Sein Computer meldete den Empfang einer E-Mail. Der Autor? Das wäre ein Zeichen! Schäfer drehte sich zum Bildschirm, sah den anonymen Absender und klickte auf den Dateianhang. Ein Video. Ein Mädchen steht auf einem Siloturm, geht in die Knie und schaut in die Tiefe, steht wieder auf, winkt nach unten, wartet einen Augenblick und springt. Die Kamera folgt dem Fall, bis das Mädchen auf der Wiese aufschlägt und dort wie eine verdrehte Schaufensterpuppe liegen bleibt.
Eine Minute verstrich – vielleicht auch fünf –, dann riss sich Schäfer aus dem Sessel, ging zur Tür und rief hinaus: „Gruppenbesprechung, jetzt!“
23.
Er hatte sein Team mit den Aufgaben betraut, die sich mittels Telefonaten, Vor-Ort-Befragungen und Datenbank-Recherchen erledigen ließen: Beziehungen zwischen den beiden Mädchen, gemeinsame Kontaktpunkte zu Dritten, Drogen, außergewöhnliche Bekanntschaften in den vergangenen Monaten et cetera. Das LKA ? Die Frage stand im Raum, doch Schäfers Tonfall war zu bestimmt, als dass jemand sie zu stellen wagte. Nachdem er die nächste Besprechung auf sechs Uhr abends angesetzt hatte, zog er sich in sein Büro zurück. Eigentlich war ihm nach einem ausgiebigen Spaziergang – einem körperlichen Rhythmus, der im Einklang stand mit seinen galoppierenden Gedanken. Doch er war nicht länger in Wien mit einer selbstständigen Gruppe an seiner Seite. Hier hatte die Kommandobrücke besetzt zu sein für den Fall, dass die Klingonen einen erneuten Angriff starteten.
Er setzte den Wasserkocher auf, bereitete sich eine Kanne Wolkingers Kraft & Konzentration und ging mit einer dampfenden Tasse in der Hand von einer Wand zur anderen. Dann heftete er vier Bögen A1-Papier an die Wand und nahm einen schwarzen Faserstift. Die Geschwindigkeit, mit der Schäfer die bislang bekannten Fakten und etwaige Anhaltspunkte für einen Verdächtigen notierte, ließ an einen Maler denken, der bemerkt hat, dass die Muse schon einige Male auf die Uhr geblickt hat und sich wohl demnächst verflüchtigen wird.
Nachdem er zwei Charts dicht beschrieben hatte, nahm er die Berichte zur Hand, die Schreyer geschickt hatte: 92 Todesfälle von Jugendlichen unter Drogeneinfluss, von denen Schäfer jene aus Deutschland und der Schweiz beiseitelegte. Er sortierte die Fälle aus Österreich und beschränkte sich schließlich auf drei Jugendliche aus der Region, die in jüngster Vergangenheit auf nichtnatürliche Weise ums Leben gekommen waren. Nachdem er ein Mädchen, das im Ottensteiner Stausee unter Alkoholeinfluss ertrunken war, sowie einen Studenten, der sich erschossen hatte, ebenfalls ausgeklammert hatte, blieb ein Fall übrig:
Corina Vogtenhuber, eine achtzehnjährige Schülerin aus der Gegend, die bei einem Sprung respektive Sturz von einer Autobahnbrücke im Salzkammergut zu Tode gekommen war. Bei der Obduktion waren LSD und Barbiturate gefunden worden.
Schäfer telefonierte mit den zuständigen Beamten und forderte die komplette Ermittlungsakte an. Ein paar Minuten hörte er sich das übliche Gerede an – so schnell geht das nicht, im Moment sehr viel zu tun –, dann wiederholte er seinen Dienstrang, erwähnte den Landespolizeikommandanten und bekam die Übermittlung noch für den selben Tag zugesichert.
Auer betrat das Büro – anzuklopfen hatte sie in der Aufregung vergessen.
„Jasmin Eder hat Drogen konsumiert“, sie sah auf ihren Notizblock, „Halluzinogene und ein Muskel-Relaxans … haben sie im Krankenhaus herausgefunden … offenbar eine Mischung, die einen ziemlich aus den Patschen haut.“
„Wann können wir mit ihr sprechen?“
„Mit ihren Kopfverletzungen wäre es ein Wunder, wenn sie überhaupt noch sprechen kann … wenn sie überhaupt noch einmal aufwacht.“
„Gut … wenn die Eltern einverstanden sind, lassen Sie sich ihr Zimmer zeigen.“ Als Auer schon dabei war, die Tür hinter sich zu schließen, fügte Schäfer rasch hinzu: „Und sagen Sie nichts über das Video!“
Er versuchte sich zu konzentrieren, seine Gedanken so zu ordnen, dass sie ihm eine Vorstellung von diesem Schwein lieferten, das … was denn? Den Mädchen Drogen
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