Es wird Tote geben
langsam die Schnauze voll von diesem Kaff.“
„Das können Sie aber nicht uns in die Schuhe schieben.“
„Entschuldigung … das war nicht gegen euch … aber seit ein paar Wochen läuft hier alles aus dem Ruder … Da führt irgendwer ein Theater mit uns auf und wir stehen da und tanzen nach seiner Pfeife … und egal, was passiert, wir sind immer einen Schritt hinterher, oder?“
„Schaut so aus, ja …“ Plank hatte sichtlich Lust, aus diesem Büro zu verschwinden und Strafzettel zu sortieren. „Unser Jungspatz ist wieder da!“, sagte er erleichtert, als Auer plötzlich in der Tür stand.
„Kann ich Sie kurz sprechen?“, wandte sie sich kleinlaut an ihren Vorgesetzten.
„Sicher“, erwiderte Schäfer, worauf Plank sich rasch entfernte.
„Darf ich Ihnen was zeigen?“ Auer deutete auf den Computer. Schäfer rückte zur Seite, worauf sie sich über die Tastatur beugte und einen Augenblick später zurücktrat. „Da.“
Da: ein verwackeltes Video auf einer englischsprachigen Homepage, hochgeladen vier Wochen zuvor von bridgewatcher, aufgenommen auf einer … Autobahnbrücke, im Hintergrund sanfte Berge, Wald. Ein Mädchen schaut in Richtung Kamera, spricht zu einem unsichtbaren Gegenüber, schaut nach links, nach rechts, dreht sich um und klettert auf die Absperrung. Streckt die Arme aus, bleibt ein paar Sekunden so, springt.
„Ist sie das?“, fragte Schäfer leise und drehte sich zur Seite.
„Corina Vogtenhuber, ja“, ergänzte Auer. Und nach einem Augenblick des Schweigens: „Die Seite ist aus Amerika, der Server steht in Weißrussland … und dieser bridgewatcher ist ziemlich sicher nicht die Person hinter der Kamera … es schaut eher so aus, als ob er solche Videos sammelt und dann auf dieser Seite veröffentlicht … macht er schon seit sieben Jahren … 42 Filme von Selbstmorden … das ist so krank.“
„Ja.“ Mehr fiel Schäfer dazu im Moment nicht ein.
„Bin ich jetzt wieder dabei?“
„Ja … bis der Gips herunten ist, bleiben Sie aber im Innendienst … lassen Sie sich von Friedmann auf den letzten Stand bringen.“
Wo zu erwarten gewesen wäre, dass Schäfer nach Auers Fund völlig ausrastete, setzte paradoxerweise das Gegenteil ein: Er wurde ruhig, fühlte, wie die Anspannung sich löste. Er war traurig, das schon, aber ohne die verzweifelte und destruktive Wut, die Dinge wie dieses Video üblicherweise in ihm auslösten. Vielleicht war es einfach zu viel des Bösen. Die Normalität war zum Wahnsinn geworden und der Wahnsinn zur Normalität. Verzweifelte springen von Häusern, Türmen, Brücken. Und daneben wartet jemand auf diesen Moment wie ein Ornithologe auf den Balztanz zweier Vögel. Wie dieser bridgewatcher. Sah sich so einer als Künstler, als Dokumentarfilmer? Oder als das, was er war: ein Arschloch. Ein weiterer Freak, der sich in diesem Hochgeschwindigkeitskarussell an grausamen Eitelkeiten inszenierte, der um Aufmerksamkeit buhlte und aufgrund mangelnder eigener Fähigkeiten dazu das Leid anderer verwandte? Einer mehr im Todesreigen. Der sich irgendwann der Polizei oder selbst aufs Gleis stellen würde. Oder?
Oder auch nicht. Wer diese Mädchen zum Freitod verführte, war offensichtlich so überzeugend wie kaltherzig. Charme und Intelligenz gepaart mit fehlender Empathie: die Formel für einen Psychopathen. Und wenn so einer Gefallen am Tod gefunden hatte, gelangte er in der Regel schnell zum Töten, vom Selbstmord zum Mord zum Serienmord. Die klassische acceleration . Ja, der Autor hatte diesen Teufel an die Wand gemalt und jetzt schien es, als ob er tatsächlich heruntergestiegen wäre und in Schaching sein Unwesen triebe. Nein, wie sie jetzt wussten, hatte diese Geschichte schon früher angefangen. Mit Corina Vogtenhuber als erstem Opfer der Serie.
Der Raum wurde Schäfer zu eng. Die Luft schien keinen Sauerstoff mehr freizugeben. Sollte er der Scheibe den Rest geben? Nein. Raus aus dem Büro. Weitermachen.
„Kann ich mir die für eine Stunde ausleihen?“ Schäfer war an Planks Schreibtisch getreten und zeigte auf den wuchtigen Chronometer an dessen Handgelenk.
„Meine Uhr? … Na ja, die ist …“
„Ich passe drauf auf, versprochen“, sagte Schäfer und hielt die Hand auf.
Szenenwechsel. Im Gewerbepark.
„Herr Schäfer … irgendwas nicht in Ordnung mit dem Gerät?
„Ich habe noch keine Zeit gehabt zum Installieren … eigentlich suche ich“, Schäfer sah sich um, „so ein Kabel, mit dem ich meine Lautsprecher an den Computer
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