Es wird Tote geben
Linz gegeben hatte. Er war eine Frühgeburt gewesen, vielleicht auch eine absichtlich herbeigeführte mit dem Zweck, ihn ins Klo hinabzuspülen, so genau konnte das nicht mehr eruiert werden. Er hatte 1800 Gramm gewogen und war 32 Zentimeter groß gewesen. Er hatte überlebt, obwohl nach seiner Auffindung alles dagegen gesprochen hatte. Den Namen Simon hatte ihm eine der Nachtschwestern gegeben. Was es mit der ersten Pflegefamilie auf sich gehabt hatte, wusste Laura Graber nicht genau. Vielleicht wollten sie so vielen Kindern wie möglich ein liebevolles Zuhause bieten und hatten sich dabei übernommen. Vielleicht waren es faule Säcke, die vom Staat das Pflegegeld kassierten und damit billigen Wein kauften, während ihre Kinder in Sachen herumliefen, die sie nachts aus dem Altkleidercontainer der Caritas stehlen mussten. Wie auch immer, 1991, im Alter von drei Jahren, wurde Simon in die Obhut der Familie Graber gegeben.
„Meine Mutter“, so Laura Graber, „ist bei meiner Geburt fast verblutet. Danach haben sie sich nicht mehr getraut, obwohl sie unbedingt mindestens zwei Kinder haben wollten. Da haben sie eben Simon genommen. Er war von Anfang an auf meine Mutter fixiert. Mama, Mama, Mama. Er hat sich lieb Kind gemacht, wie man so sagt, er war so brav, dass es unheimlich war … dann hat er angefangen, uns gegeneinander auszuspielen.“
„Wie denn?“, wollte Schäfer wissen, der nicht verstand, wie und wieso ein Kind die eigene Familie zerstören sollte. Was hatte es denn davon, was blieb ihm dann noch?
„Einmal“, erzählte sie, „hat Mama ihre Halskette nicht mehr gefunden … die war eins von ihren Lieblingsschmuckstücken, weil Papa sie im Urlaub gekauft hatte … und wir haben sie alle zusammen gesucht und nicht gefunden … und ein paar Tage später hat sie die Wäsche eingeräumt und die Kette bei mir im Kasten gefunden … Ich habe ihr immer wieder gesagt, dass ich sie nicht genommen habe, und sie hat gesagt, dass sie mir glaubt, aber ich habe gemerkt, dass das nicht stimmt.“
„Ihr Adoptivbruder hat sie in den Kasten gelegt …“
„Wer sonst … nur habe ich das damals nicht so sehen können … ich war zehn und er fünf, wieso hätte er so was tun sollen?“
„Ich bin kein Psychologe“, erwiderte Schäfer und hörte mit wachsendem Erstaunen, was Laura Graber ihm berichtete. Über Tagebücher, die offensichtlich gelesen worden waren, was sie ihrer Mutter angelastet hatte. Über den Zigarettenrauch im Keller, für den sie beschuldigt worden war, obwohl sie damals noch gar nicht rauchte. Über das Parfüm, das bestimmt Simon auf den Anzug seines Vaters gesprüht hatte, damit die Mutter glaubte, er hätte eine Affäre. Über die vergiftete Atmosphäre, auf die sie alle zunehmend mit Schweigen reagiert hatten, anstatt sie anzusprechen. Darüber, dass sie damals zudem gerade in die Pubertät gekommen war und ihre Eltern noch mehr verachtete, als es naturgemäß ohnehin der Fall gewesen wäre.
„Hm“, meinte Schäfer benommen von ihrem Vortrag, „wo kann ich denn Ihre Eltern erreichen?“
„Mein Vater ist tot … er hat einen Unfall gehabt, nur zwei Monate, nachdem Simon aufs Internat nach Steyr ist … und meine Mutter lebt inzwischen mit ihrem neuen Lebensgefährten in Südafrika.“
„Was für ein Unfall?“
„Mit seinem Motorrad … aber damit hat Simon sicher nichts zu tun gehabt“, ergänzte sie, als sie Schäfers gesteigertes Interesse wahrnahm.
„Wie kann ich Ihre Mutter erreichen?“
„Ich schreibe Ihnen die Nummer auf.“ Sie holte eine Visitenkarte aus der Handtasche, las eine Nummer vom Handy ab und notierte sie.
„Danke … und Ihr Bruder: Wann haben Sie wieder Kontakt zu ihm aufgenommen? Oder hat er sich jetzt nur gemeldet, weil er Ihre Hilfe braucht?“
„Nein, wir teilen uns ja das Haus meiner Eltern, in Freikirchen … ich bin zwar viel unterwegs und habe eine Wohnung in Salzburg, aber zwischendurch bin ich immer wieder hier … wir sind halt doch Geschwister.“
„Verstehe … und wieso kommen Sie darauf, dass er etwas mit diesen Todesfällen zu tun haben könnte?“
„Ich weiß es nicht … es ist nur so ein Gefühl …“
„Haben Sie eins der Mädchen jemals in Ihrem Haus gesehen?“
„Nein, aber ich bin auch selten da …“
„Macht er Ihnen Angst?“
„Angst ist übertrieben, unheimlich ist er mir eben manchmal … aber ich will auch nicht, dass er … vielleicht hat er auch wirklich nichts damit zu tun … aber Sie haben in solchen Dingen
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