Es wird Tote geben
seines Bruders und räumte den Tisch ab. Auf dem Weg in die Küche dachte er daran, seine Kollegen anzurufen, um zu erfahren, wie der Drogen-Einsatz am Vorabend gelaufen war. Nein, wozu? Konnte er auch im Internet nachschauen. Nein, wozu? Er holte den Staubsauger aus der Abstellkammer. Stellte sich den Lärm vor, mit dem dieser den morgendlichen Frieden zerstören würde. Und räumte ihn wieder weg. Er setzte sich auf die Couch und blätterte in einem Wissenschaftsmagazin. Las eine Reportage über wasserfreie Toiletten. Nahm sein Telefon und ging das Adressbuch durch. Schließlich packte er seine Badesachen, fütterte die Katze und stieg ins Auto.
Am Mondsee wäre er fast ertrunken. Einen solch dramatischen Erzählbeginn hätte er vermutlich gewählt, wenn seinem dortigen Erlebnis etwas Heroisches angehaftet hätte. So aber würde es unerwähnt bleiben. Dass er schlichtweg seine Kräfte überschätzt hatte. Den See an einer Stelle queren wollte, die … Männern wie den Iron Cops vorbehalten war. Dass er Todesangst bekam. Und schließlich ein älteres Ehepaar in einem Ruderboot zu Hilfe rief.
In der Altstadt von Salzburg schloss er sich spontan einer spanischen Reisegruppe an. Wandte seinen Blick dorthin, wo die Objektive der Touristen hinzielten, und fand nichts von Interesse. Also folgte er eigenen Spuren. Spazierte zu jener Pension, in der er drei Jahre zuvor ein paar Nächte verbracht hatte. Er sah zum offen stehenden Fenster seines damaligen Zimmers hinauf. Kein Luftzug bewegte den dünnen gelblichen Vorhang, der irgendwann als weißer gekauft worden war. Dahinter stand bestimmt noch das morbide Einzelbett, das sich über jede Bewegung mit einem möwenhaften Kreischen beschwert hatte. Und die steile, enge Holztreppe, über die man in die Gaststube gelangte. Die am Morgen den ganzen Gestank der Raucher und Trinker vom Vorabend ausschwitzte, so dass Schäfer das Zwei-Sterne-Frühstück gerne ausgelassen und sich auf die Terrasse des Café Glockenspiel gesetzt hatte.
Dort stand Schäfer jetzt und versuchte, den Mann zu sehen, der er damals gewesen war. Gemischte Gefühle. Scham beim Gedanken an die Umstände, die zu seiner Versetzung nach Salzburg geführt hatten. Ein komplizenhaftes Grinsen in der Erinnerung an die Farce, die er in der Reha-Klinik veranstaltet hatte. (Hektor Maria Müller als Deckname!) Er flanierte über die Salzach, betrat den Mirabellgarten und suchte den Zwergerlgarten auf. Setzte sich wie damals auf eine der Steinbänke, fotografierte wie damals mit seinem Handy die Steintafel, die Inschrift: Auf fast allen europäischen Fürstenhöfen wurden in der Barockzeit bedauernswerte, verwachsene Menschen zur Belustigung gehalten, die jedoch ob ihrer Treue und Loyalität hoch geschätzt wurden. Sandte das Bild wie damals an Bergmann. Der diesmal nicht umgehend mit einem Anruf antwortete. Worauf Schäfer den Mirabellgarten verließ; wehmütig wie ein Fürst, dem sein Hofstaat abhandengekommen war.
Wie ferngesteuert ging er in die Altstadt zurück, querte den Waagplatz – erinnerte sich an die Traklausstellung, die er vor ungezählten Jahren mit seiner damaligen Freundin Ulli besucht hatte – querte den Mozartplatz, betrat die ruhige Pfeiffergasse und stand wenig später vor einem stilvoll vernachlässigten Jahrhundertwendebau. Schäfer blickte auf die Namensschilder neben der Eingangstür. Er wohnte immer noch hier, Doktor Hofer, einer von Europas größten Neurologen. Mittlerweile Neurologe ohne Zulassung und im unfreiwilligen Ruhestand. „Dank meiner glorreichen Arbeit“, murmelte Schäfer und trieb abermals in die Vergangenheit ab. Sah ihr erstes Zusammentreffen, den Besuch bei Frau Bienenfeld, die Anstalt, die Hütte am Predigtstuhl, Frau Gerngross als Frankensteins Lehrling, Kastor … letztlich wieder Hofer, der ihm damals das Leben gerettet hatte und auch im Jahr darauf für ihn da gewesen war. Eigentlich ein guter Mensch, dieser Hofer – doch was war Schäfer denn übriggeblieben, als ihn zu überführen und zu verhaften? Nach diesen Versuchen, diesen außer Kontrolle geratenen Experimenten, die einen Mörder zu einem besseren Menschen hätten machen sollen.
„Herr Schäfer!“ Hofer blickte seinen Besucher kurz überrascht an, wischte seine Verwunderung jedoch ohne weiteren Kommentar weg wie Kondenswasser von einer Scheibe und bat ihn einzutreten.
„Was führt sie nach Salzburg?“, fragte Hofer, nachdem er Schäfer in der Küche einen Stuhl angeboten und einen Aschenbecher auf
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