Escape
die Jungs sagten. Ich biss mir auf die Lippe, während ich den Türknauf Millimeter für Millimeter drehte, bis die Tür sich endlich öffnen ließ. Ich wartete, lauschte. Die Jungs sprachen weiter, weshalb ich die Tür gerade so weit öffnete, dass ich hindurchschlüpfen konnte. Auf Zehenspitzen lief ich zum Treppenabsatz.
Ich wollte etwas von dem mitbekommen, was dort über mich gesprochen wurde.
»Schlag Connor einen Handel vor«, sagte Nick. »Je eher wir sie los sind, desto besser. Sie macht mehr Ärger, als sie nutzt. Keiner von uns hätte heute Abend kämpfen müssen, wenn sie nicht dabei gewesen wäre.«
Ich schlich noch ein paar Stufen hinunter, gerade so weit, wie ich mich traute.
»Alter«, warf Cas ein, »du kannst doch Anna nicht für das verantwortlich machen, was dieser Idiot getan hat.«
»Von dem Typen, der uns provoziert hat, spreche ich doch gar nicht«, sagte Nick. »Überlegt mal, wieso wir gekämpft haben. Ich hatte das Gefühl, sie verteidigen zu müssen, obwohl ich es nicht mal ertragen kann, sie nur anzusehen. Sie erinnert mich an das Labor, an die vielen beschissenen Jahre, die wir in kleinen gläsernen Schaukästen verbracht haben, in denen sie ein und aus gehen konnte. Schaltet doch mal endlich euren Verstand ein! Woher kommt dieser Drang, sie beschützen zu müssen?«
»Sie gehört zur Familie«, sagte Trev ganz ernst.
»Daran liegt es nicht und das weißt du genauso gut wie ich«, blaffte Nick zurück. »Der Agent auf dem Parkplatz hat gerufen, dass sie sich Anna zuerst schnappen sollen. Wieso denn bitte?«
Ich hatte in dem ganzen Chaos völlig vergessen, was der Agent gesagt hatte. In dem Moment hatte ich den Befehl eigenartig gefunden, jetzt klang er auch für mich verdächtig.
Stille senkte sich über die Küche.
»Hört auf, in ihr ein unschuldiges, wehrloses Mädchen zu sehen«, fuhr Nick fort, »und erkennt endlich, was für eine Last sie ist.«
Ich sauste die wenigen verbliebenen Stufen hinunter, Wut stieg in mir auf. Ich betrat die Küche, die Hände noch an meinen Seiten zu Fäusten geballt. Sam sah zu mir, unsere Blicke trafen sich. Ich spürte, wie sich die Stimmung im Raum wandelte. Würden sie sich wirklich gegen mich stellen? Selbst Sam?
Nie war ich mir meiner Verletzlichkeit so bewusst gewesen wie in diesem Moment. Ich befand mich mitten in Michigan, ohne jedes Mitspracherecht. Mein Leben lag in den Händen von vier Jungs, die mich mit einem Zahnstocher umbringen konnten, wenn sie wollten.
Und sie starrten mich an, als würden sie mich nicht kennen.
»Ich bin keine Last«, sagte ich. »Ich bin eure Freundin.«
Sams Mund zog sich zusammen.
Nick ignorierte mich. »Wir könnten sie in der nächsten Stadt aussetzen.«
Er konnte extrem überzeugend sein, wenn er wollte. Beim Gedanken, von ihnen in einer Stadt zurückgelassen zu werden, die ich nicht kannte, verkrampfte sich alles in mir. Ich sprang auf ihn zu, Angst, Wut und eine Million andere Dinge trieben mich an. Damit hatte er nicht gerechnet, er taumelte einen Schritt zurück, doch hatte sogleich sein Gleichgewicht wiedererlangt. Er griff nach meinen Armen, riss mich herum und rammte mich gegen die Wand.
Die anderen sprangen sofort auf.
»Nicholas!«, knurrte Sam.
Nick und ich sahen uns in die Augen, die Luft flimmerte zwischen uns, doch nicht wegen der Hitze, sondern voller Hass.
»Verdammt noch mal«, rief Trev.
»Du greifst mich an und trotzdem kann ich dir nicht wehtun.« Nicks Stimme klang anklagend. »Logisch wäre es, mich selbst zu schützen; stattdessen beschütze ich dich. Sag mir, dass das keine Last ist, Anna. Sag mir, dass das normal ist.«
»Lass sie los, Nick«, sagte Sam.
Ausnahmsweise ignorierte Nick einen von Sams Befehlen. Ich umfasste mit beiden Händen seine Unterarme, damit ich irgendwie gewappnet war, sollte ich kämpfen müssen. »Lass mich los.« Ich sprach jedes dieser Worte mit so viel Nachdruck aus, wie ich konnte.
Nicks Kiefermuskeln spielten, doch er gab mich frei, und ich rutschte ein paar Zentimeter die Wand hinunter. »Ich bin nicht das, wofür du mich hältst.« Ich schaute von ihm zu den anderen, die auf wenige Meter herangekommen waren. Auf all ihren Gesichtern spiegelte sich die gleiche Unsicherheit.
»Geht es etwa jedem von euch so? Habt ihr alle ein unerklärliches Bedürfnis, mich zu beschützen?« Niemand antwortete. »Wollt ihr mich veräppeln? Wieso habt ihr mir das bisher nicht gesagt?«
»Wir waren uns nicht sicher«, erklärte Sam.
»Mein Gott.«
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