Escape
wenn Connor jetzt, in diesem Moment, in das Haus stürmen würde?
Ich zog die Decke enger um mich, während Sam über die Schwelle trat.
»Ich wollte dich nicht erschrecken.«
»Hast du auch nicht«, log ich. In Wahrheit war ich hochgradig angespannt. Ich wusste, wozu er fähig war, und fragte mich, ob ich mittlerweile als Feind galt.
Er ließ sich auf die breite Fensterbank fallen, stützte die Ellbogen auf seine Knie. »Wie geht es dir?«
»Ganz okay.«
»Hast du Schmerzen?«
»Ein bisschen.«
»Brauchst du irgendwas?«
Ich schluckte. »Wieso bist du hier, Sam?«
Er fuhr sich mit dem rechten Daumen über die Fingerknöchel der linken Hand. Mondlicht sammelte sich auf seinem Rücken. »Kannst du dich noch daran erinnern, wie du mal mit einem blauen Auge von deinem Kampftraining nach Hause gekommen bist?«
Natürlich konnte ich mich daran erinnern. Das gehörte zu den Dingen, die ich niemals vergessen würde. Obwohl es mich furchtbar wütend gemacht hatte, von meinem Gegner überwältigt worden zu sein, hatte ich mich wahnsinnig stark gefühlt. Stark wie eine Krieger in. Ich trug das blaue Auge wie ein Abzeichen und stolzierte ins Labor, kaum dass mein Vater eingeschlafen war, um damit zu prahlen.
Doch Sams Reaktion war ganz anders ausgefallen, als ich gehofft hatte. Ich wollte, dass er beeindruckt war, dass er so etwas wie Ehrfurcht zeigte.
Stattdessen verhörte er mich regelrecht, wie es passiert war, wer mich getroffen hatte, ob mein Gegner größer, stärker oder schneller gewesen war. Junge oder Mädchen. Arrogant oder nett. Damals sah ich zum ersten Mal seinen Beschützerinstinkt aufblitzen und dachte bei mir, na gut, soll mir auch recht sein.
Als ich in jener Nacht das Labor verließ, hatte ich das Gefühl, endlich ein wenig mit Sam vorangekommen zu sein, etwas von ihm bekommen zu haben, wenngleich nicht das, was ich mir erhofft hatte.
»Ja, ich erinnere mich«, sagte ich nun.
Er faltete die Hände. »Da habe ich zum ersten Mal gemerkt, dass uns mehr verbindet, als ich gedacht hatte.« Er lehnte sich zurück, sein Gesicht versank im Schatten. »Seit dem ersten Morgen, an dem ich in diesem verflixten Labor wieder zu mir gekommen bin, hat mich nichts mehr so extrem frustriert wie dieses Veilchen. Weil ich dich nicht so beschützen konnte, wie ich muss.«
Muss. Als wäre das etwas, das er nicht kontrollieren konnte. Ich wagte es nicht, mich zu bewegen. Ich hätte es nicht ertragen, wenn er aufgehört hätte zu reden.
»Ich wusste, dass diese Reaktion merkwürdig war, schließlich hast du auf die andere Seite der Scheibe gehört. Aber ich habe mich nie gefragt, welche Rolle du bei dem Projekt spielst. Du hast unser Leben dort erträglich gemacht. Und das werde ich dir nicht vergessen. Egal, was passiert.«
Meine Augen brannten. In meiner Kehle saß ein dicker Kloß.
»Was auch immer uns noch bevorsteht, ich werde dafür sorgen, dass du in Sicherheit bist. Ich lass dich nirgendwo zurück. Und ich werde Connor keinen Handel vorschlagen. Es ist mir egal, was Nick davon hält.«
Ich presste die Lippen aufeinander, ich durfte nicht weinen. Nicht jetzt.
»Ich wollte nur, dass du das weißt«, sagte er. Obwohl ich ihn nicht sehen konnte, spürte ich, dass er mich ansah.
»Danke.« Meine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern.
Er stand auf und entfernte sich. Alles in mir drin schrie: Geh nicht. Bleib. Bleib. Dabei war es mir ganz egal, ob wir noch weitersprechen würden oder nicht. Seine bloße Anwesenheit reichte mir.
An der Tür blieb er noch einmal stehen.
»Welche Farbe würdest du nehmen?«
Ich runzelte die Stirn. »Was?«
»Als ich reingekommen bin, hast du aus dem Fenster geguckt.«
Und gezeichnet , war das, was er nicht sagte. Du hast ausgesehen, als würdest du zeichnen.
Das mittlerweile gewohnte Brennen kehrte zurück und ließ die Welt vor meinen Augen verschwimmen. Es schien eine Ewigkeit her zu sein, dass wir uns über das Wetter und die Welt außerhalb des Labors unterhalten hatten, und darüber, wie ich sie zeichnen würde. Es fehlte mir. Es fehlte mir so sehr. »Lavendelgrau.«
Er nickte und wandte sich dann wirklich zum Gehen. »Gute Nacht, Anna.«
»Gute Nacht.« Ich atmete erleichtert auf, als sich seine Schritte entfernten und er die Treppe hinunterlief. Mir war bis zu diesem Moment nicht bewusst gewesen, wie sehr ich mir wünschte, dass er mir traute. Nach allem, was wir durchgemacht hatten, stand ich noch immer auf seiner Seite. Und dort würde ich auch immer
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