Escape
gleichzeitig in meinen Kopf. Meine Mutter war nie mehr für mich gewesen als ein paar Seiten und Wörter in einem Tagebuch. Eine Frau auf einem Foto. Und jetzt saß sie hier, aus Fleisch und Blut. Echt. Lebendig.
Mag sein, dass diese Frau älter war als die Frau auf dem Foto. Dass ihr Haar an den Schläfen ergraut war. Dass ihre Wangen nicht mehr so voll waren wie die der Mittzwanzigerin an dem See. Aber all das war unwichtig. Ich wusste, dass sie es war.
»Sura?«, fragte Sam. Der Name klang so fremd in diesem bescheidenen Wohnzimmer.
Sie nickte, der Hund setzte sich auf.
Eine Million Fragen schössen mir durch den Kopf, doch keine verweilte lange genug, um sie laut formulieren zu können. Wieso hatte sie nie versucht, Kontakt zu mir aufzunehmen? Hatte sie mich überhaupt erkannt?
Sam setzte sich auf das Sofa und zog mich zu sich. Er nahm meine Hand in seine. Seine Hand war kühl, trocken und stark. Meine zitterte und war völlig verschwitzt.
»Ich warte schon seit Tagen darauf, dass ihr euch bei mir meldet«, sagte sie. »Ich habe durch einen meiner Kontakte aufgeschnappt, dass ihr geflohen seid. Eigentlich wollte ich in Pennsylvania auf euch warten, aber ich habe zu große Angst bekommen und bin erst mal untergetaucht.« Sie schüttelte den Kopf. Ihr Zopf bewegte sich. Wieso sah sie mich denn gar nicht an?
»Also, erzähl mir, was passiert ist. Ich hatte keine Ahnung -« Sie verstummte und spielte mit ihren Fingern. »Es tut mir leid, Samuel. Sehr leid. Ich habe ein paar Jahre nach dir gesucht, nachdem du verschwunden bist, aber konnte dich einfach nicht finden.«
Ich wurde allmählich unruhig, doch Sam drückte meine Hand. Noch nicht, sollte mir das sagen. Hab noch etwas Geduld.
»Einer der Hinweise enthielt Ihre Telefonnummer«, sagte Sam.
Sie nickte. »Das war Teil des Plans. Damit du eine Chance hast, mich zu finden, falls sie deine Erinnerungen auslöschen. Du hast mir ein Telefon gegeben und mich gebeten, es nie auszuschalten. Niemals. Von diesem Haus hier wusste ich aber nichts.« Sie ließ ihren Blick flüchtig durch das Wohnzimmer streifen. »Aber du warst ja nie wirklich mitteilsam.«
»Woher kennen Sie mich?«, fragte Sam.
»Du bist mit Dani vor etwas über fünf Jahren zu mir gekommen und hast mich um Hilfe gebeten. Dani kannte ich über ihren Onkel.« Für einen Moment sah sie nachdenklich aus, schüttelte dann jedoch schnell den Kopf. »Egal. Du hast etwas von der Sektion gestohlen, mit dem du dir deine Freiheit zurückkaufen wolltest. Doch dann ist Dani verschwunden. Du hast dir eine Spur aus Hinweisen gelegt, damit du im Notfall darauf zurückgreifen konntest, und hast dich auf die Suche nach ihr gemacht.« Der Hund winselte. »Du bist nie zurückgekehrt.«
»Warten Sie mal gerade.« Cas hob eine Hand. »Ich komme irgendwie nicht mit. Wer ist Dani?«
Sam kramte das Bild von sich und dem Mädchen aus einer der Gesäßtaschen. Es war einmal gefaltet und die Ecken so abgestoßen, dass man das weiße Papier unter der Farbe sehen konnte.
Ein sonderbares Gefühl, für das ich keinen Namen hatte, regte sich in mir. Was hatte es zu bedeuten, dass Sam das Foto anscheinend immer bei sich trug wie ein Andenken?
Er zeigte Sura das Bild. »Ist das Dani?«
Sura musste nicht zweimal hinsehen. »Ja.«
»Ich kann mich nicht an sie erinnern.« Sam ließ sich das Foto zurückgeben und steckte es wieder in seine Tasche. »Wieso habe ich nach ihr gesucht?«
»Na... Weil du sie geliebt hast. So einfach ist das. Und Connor hat sie entführt.«
Das sonderbare, namenlose Gefühl wurde intensiver, ich merkte es plötzlich scharf und beißend auf meiner Zungenspitze. Und plötzlich wusste ich, was es war: Herzschmerz. Wenn sie der Grund dafür war, dass Sam all diese Hinweise gestreut hatte, und letztlich auch dafür, dass er geschnappt worden war, dann bedeutete das auch, dass Sam niemals ins Labor gesperrt worden wäre, wenn es sie nicht gegeben hätte. Und ich hätte ihn nie kennengelernt. Ich hasste und liebte dieses Mädchen. Gleichzeitig.
»Ich weiß nicht, was ihr zugestoßen ist«, sagte Sam. »Aber manchmal tauchen kurze Erinnerungen an ein Mädchen auf.«
Ich warf ihm einen Blick zu. Das hatte er mir nie erzählt.
»Ich sehe nie ein Gesicht«, fuhr er fort, »aber vielleicht ist das ja sie?«
Wenn er vor fünf Jahren alles versucht hatte, was in seiner Macht stand, um dieses Mädchen zu finden - die Tätowierung und Narben in Kauf genommen hatte, der Sektion Widerstand geleistet -, zu was
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