Escape
sich weisen wollte, dann ja wohl mir. Schon nach einer Stunde des Wartens hatten all die offenen Fragen meinen Schmerz geschürt, der sich in einem großen Kloß in meinem Hals manifestierte. Welche Mutter ließ denn ihre Tochter zurück? Ich hätte sie gebraucht. Doch während ich um sie getrauert hatte, führte sie nur ein paar Stunden entfernt ein Leben unter dem Decknamen Mrs Tucker.
Die aufgeregten Schmetterlinge gingen in Flammen auf und zerfielen zu Staub.
Nick öffnete die Tasche mit den Schusswaffen. Der Reißverschluss machte ein durchdringendes Geräusch, dicht gefolgt vom Ritsch, Ratsch einer Pistole, die durchgeladen wurde. Und was, wenn das alles eine riesengroße Falle war? Was, wenn meine Mutter Connor in die Hände gefallen war? Es gab eine Million dieser Fragen, die mit »was« und »wenn« anfingen, und nur eine falsche Entscheidung würde uns so unendlich viel kosten.
Aber sie war meine Mutter. Meine Mutter.
Die Jungs übernahmen abwechselnd die Wache an den front-und rückseitigen Fenstern. Jeder von ihnen hatte eine Pistole in der Nähe, wenn nicht in der Hand.
Viereinhalb Stunden später bewegte sich Cas am vorderen Fenster und schnipste mit den Fingern. Es war fast dreiundzwanzig Uhr und wir saßen schon eine ganze Weile im Dunkeln. Auf Sams explizite Anweisung hin brannte nicht mal ein Feuer im Kamin, weshalb ich mich in meine Jacke gewickelt hatte, um der Kälte zu trotzen.
Scheinwerfer blitzten auf und Sam sprang von der Couch. Ich rannte zum Fenster im Esszimmer und ignorierte damit Sams Anweisung, mich im Hintergrund zu halten. Aber ich musste sie sehen. Ich musste wissen, ob sie es wirklich war.
Ein alter, verbeulter Pick-up stellte sich neben den SUV, den Cas als Letztes geknackt hatte. Der Motor verstummte, das Licht wurde ausgeschaltet und die Fahrertür öffnete sich. Ich konnte nur ihre Silhouette erkennen, und dass ihr ein dicker, geflochtener Zopf über die Schulter hing. Ein Hund sprang vom Truck und rannte aufs Haus zu.
Die Frau stieg die Stufen hinauf, noch immer in Dunkelheit gehüllt; ich konnte ihre Gesichtszüge nicht ausmachen. Es klopfte an der Tür. Ich rannte Richtung Wohnzimmer, doch Sam machte eine Handbewegung, die mich stoppte. Er hob seine Waffe und machte mehrere Zeichen. Erst zu Nick. Dann Trev. Dann Cas. Sie stellten sich kreisförmig vor der Tür auf, Waffen im Anschlag.
Meine Knie wurden weich. Sam drehte den Türknauf. Mein Herz schlug so wild, ich hatte Angst, es würde mir aus der Brust springen.
Die Tür öffnete sich.
Sie trat herein.
»Hände hoch«, sagte Sam bestimmt. Beherrscht wie immer.
Sie tat, was er verlangte, doch der Hund - ein brauner Labrador, wenn ich das richtig sah - trabte unbeeindruckt herein.
»Sind Sie bewaffnet?«, fragte Sam.
Sie nickte und zog eine Pistole aus dem Schulterholster, das sich unter ihrer Fleecejacke verbarg. Danach holte sie ein Messer aus ihrem Stiefel. Beide Waffen legte sie auf den Boden und Nick kickte sie mit einer schnellen Bewegung außer Reichweite.
»Ich bin als Freundin hier, Sam«, sagte sie.
In ihrer Stimme lag Tiefe, autoritäre Strenge, so als hätte sie schon viel gesehen und würde sich nichts gefallen lassen.
Sam gab Cas und Trev ein Zeichen. Sie quetschten sich an mir vorbei und verschwanden durch die Hintertür. Um die Gegend abzusuchen, wie geplant.
Mach das Licht an, dachte ich. Ich will wissen, ob sie es wirklich ist. Ich will sie mit meinen eigenen Augen sehen. Doch es blieb zunächst dunkel, während Sam sie aufforderte, ihm zu folgen. »Setzen Sie sich«, sagte er. Sie setzte sich. Ich warf einen Blick durch die Küchentür. Als sie mich sah, blitzte kurz etwas in ihren Augen auf, das hätte ich schwören können. Doch was immer sich da gezeigt hatte, es war wieder fort, bevor ich es hätte benennen können.
Der Hund legte sich neben ihr auf den Boden, sein Schwanz wedelte.
Niemand sprach auch nur ein Wort.
Erst als die Jungs wiederkamen und bestätigten, dass die Gegend sicher war, schaltete Sam endlich das Licht ein. Es dauerte einen Moment, bis meine Augen sich daran gewöhnt hatten. Ich blinzelte ein paarmal gegen die Helligkeit. Dann sah ich sie. Schwarze Haare. Schlank. Die Augen hatten die Farbe einer saftigen Sommerwiese. Die Mundwinkel waren von sanften Falten umgeben, wie der Wind sie in Sand bläst.
Ich atmete tief ein und die Luft gefror in meiner Lunge.
»Oh, mein Gott«, keuchte ich.
Sie war es. Meine Mutter. Lebendig.
Die Worte passten irgendwie nicht
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