Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
ESCORTER (German Edition)

ESCORTER (German Edition)

Titel: ESCORTER (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Millman
Vom Netzwerk:
versuchte sich an einem unbeschwerten Lächeln.
    Er zögerte, schien mit sich zu ringen. Dann beugte er sich vor. Doreé kam ihm auf halben Weg entgegen. Ihre Lippen berührten sich, ohne Zunge und für wenige Sekunden nur, doch es reichte, um ihr Herz schneller schlagen zu lassen. Schon im nächsten Augenblick beendete er den Kuss. Viel zu schnell für ihren Geschmack. »Ich ruf’ dich an.«
    Er schob die Hände in die Taschen seiner Jeans, wandte sich um und ging davon. Doreé stieg in ihren Wagen und beobachtete ihn im Außenspiegel, bis er um die Ecke verschwunden war, erst dann startete sie den Motor und fuhr davon.
     
    In dieser Nacht träumte sie von David. Er war der Jägersmann aus der Oper Die Feen und sie die Fee, die sich unsterblich in ihn verliebte. Doch statt die Unsterblichkeit aufzugeben, um mit ihm zusammen sein zu können, tötete sie ihn mit einem langen, silbernen Dolch, während der Schatten eines riesigen Hengstes über sie wachte.
     

 
     
     
     
5
     
    Pünktlich um sechs Uhr dreißig schlug Jakob die Bettdecke zurück, stand auf und trottete ins Badezimmer, um sein Morgengeschäft zu erledigen. Ausnahmsweise hatte er geschlafen wie ein Baby. Keine Dämonen und keine blonde Frau, die aussah wie er. Seit Irina ihn darauf aufmerksam gemacht hatte, ging ihm die Ähnlichkeit zwischen dem Mädchen und ihm nicht mehr aus dem Kopf. Das war sogar so weit gegangen, dass er das Gemälde genommen, sich vor den Spiegel gestellt und es neben sein Gesicht gehalten hatte. Die gleichen Augen. Die gleichen Lippen. Dieselbe ausgeprägte Kinnpartie. Warum malte er das weibliche Äquivalent zu seinem Gesicht?
    Diese Frage beschäftigte ihn, sodass er sich kaum noch auf seine täglichen Verrichtungen konzentrieren konnte. Selbst sein Darm schien darunter zu leiden. Zum ersten Mal seit Jahren war er nicht in der Lage, sein Morgengeschäft zu verrichten. Die Unterbrechung seines Tagesablaufs verstörte ihn. Er brauchte diese Ordnung, brauchte sie wie die Luft zum Atmen. Nur so konnte er das, was in ihm schlummerte, in Zaum halten. Nicht umsonst hatte er sich bereits in frühester Kindheit in sich selbst zurückgezogen, hatte einen Kerker errichtet, in dem er sich selbst gefangen hielt. Das Kanner-Syndrom hatten es die Ärzte genannt. Frühkindlicher Autismus.
    Was wussten diese Ärzte schon über den wahren Grund?
    Er musste es verschlossen halten, das, was in ihm schlummerte. Die bösen Geister, die ihm Nacht für Nacht den Schlaf raubten, ihm Dinge ins Ohr wisperten, die er nicht hören wollte. Verführerische Dinge, grausame Dinge. Dinge, die kein anständiger Mensch hören wollte. Nein, er war kein Autist, nur ein junger Mann, der verzweifelt versuchte, seine geistige Gesundheit zu bewahren.
    Ein Stöhnen entrang sich seiner Kehle, als er den Versuch, sein Morgengeschäft zu erledigen, aufgab und die Schlafanzughose hochzog. Heute war kein guter Tag. Es schien sogar ein ausgesprochen schlechter Tag zu werden. Er wusch seine Hände, seifte sie so oft ein, bis sie ganz rot und wund waren, nur um sie anschließend dick einzucremen, sodass sie glänzten, wie in Schmierfett getaucht. Anstatt zu seinem Kleiderschrank zu gehen, um sich anzuziehen, führte ihn sein Weg an diesem Morgen in den Flur, wo entlang der Wände seine Bilder standen. Das Gesicht der jungen Frau, immer und immer wieder, von nah und von fern, mal im Profil und mal in Vorderansicht und dazwischen die dunklen Wesen, die Dämonen.
    Doch da war noch mehr.
    Auf manchen Bildern gab es auch Licht. Versteckt zwischen den Fratzen, hinter glühenden Augen, unter Schwingen, Schwänzen und Fell. Ein Funken Hoffnung. Vor einem erst kürzlich entstandenen Bild ging er in die Knie. Üblicherweise ließ er Gefühle nicht an sich heran, konnte ihnen nichts abgewinnen, verstand sie auch nicht, doch bei der Frau, die er malte, gelang es ihm seltsamerweise immer, einen Ausdruck einzufangen. Diesmal war es Einsamkeit, gepaart mit einem stummen Flehen in den Augen. Vorsichtig berührte er ihr Gesicht, ertastete die feinen Unebenheiten der Farbe. Doreé.
    Der Name schoss ihm ganz unvermittelt durch den Kopf. Doreé. Doreé. Sein Blick wanderte über das Gesicht der jungen Frau. Handelte es sich um Doreé? Wer war sie? Warum ähnelte sie ihm? Aus einem Impuls heraus begann er, die Gemälde in die Küche zu tragen und auf der Küchenzeile zu stapeln. Die Anordnung erschien ihm zuerst willkürlich, doch nach einer Weile merkte er, dass er die Bilder nach einem ganz

Weitere Kostenlose Bücher