ESCORTER (German Edition)
bestimmten Muster sortierte. Ein Muster, das nur er erkennen konnte und das auch erst, als es fertig war. Wie ein Puzzle hatte er sie zusammengefügt, hatte Licht und Schatten miteinander verwoben zu einem einzigen übergeordneten Kunstwerk. Ein schwarzer Hengst mit breiten Schwingen und roten Augen. Zaghaft fuhr er die Konturen des Tierkörpers nach, von Leinwand zu Leinwand. Der Hengst berührte etwas in ihm, rüttelte an den Gitterstäben seines Gefängnisses. Er bemerkte, wie seine Hände zitterten, und spürte Schweiß in seinem Nacken. Die Vorboten einer Panikattacke. Verflucht.
Edith musste kommen, schnell. Nur sie konnte ihn beruhigen. Auf wackeligen Beinen stakste er in das Schlafzimmer, nahm das Handy vom Nachttisch und tippte hektisch eine Nachricht ein. Dann kehrte er in die Küche zurück, ließ sich auf den Küchenstuhl sinken und wartete, die Bilder fest im Blick behaltend.
Dank des Umstandes, dass sie im selben Haus wohnte, erschien seine Pflegemutter nur wenige Minuten später. Trotzdem war er schweißgebadet, bis sie kam. Seine Arme hatte er auf den Tisch gelegt, die Hände gefaltet, den Rücken durchgedrückt. Entspannt zu sitzen entsprach nicht seiner Natur, auch nicht während einer Panikattacke.
»Jakob, was ist?«, fragte Edith, kaum dass sie die Wohnung betreten hatte. Mit einem besorgten Blick in die Runde trat sie auf ihn zu und legte einen Arm auf seine Schulter. Normalerweise durfte ihn niemand anfassen, nur die Berührung seiner Pflegemutter ertrug er.
Ihr weißes Haar war nur nachlässig gekämmt und sie trug ein Schlafanzugoberteil und keine Socken in den Hausschuhen. Offensichtlich hatte seine SMS sie aus dem Schlaf gerissen. Mit dem Handrücken wischte sie den Schweiß von seiner Wange. Ihre Haut fühlte sich trocken und angenehm kühl an. »Hast du eine Panikattacke?«
Er nickte, zuckte ein wenig zurück vor ihrer Berührung. Ein verständnisvolles Lächeln huschte über ihr Gesicht.
»Ich mach’ dir erst mal einen Tee, mein Junge.«
Angespannt beobachtete Jakob, wie sie die Gemälde zur Seite rückte, das Gesamtbild zerstörte, das er kurz zuvor geschaffen hatte. Erst als sie den Wasserkocher befüllte und seine gelbe Lieblingstasse aus dem Schrank holte, schaffte er es, seinen Blick von ihrem Rücken zu lösen.
»Was hat es ausgelöst?«, fragte sie, während sie einen Teebeutel in die Tasse hängte.
Es gab Tage, an denen er mit ihr sprechen konnte. Wenige nur, doch es gab sie. Dieser war keiner davon. Er brachte kein einziges Wort hervor, nur einen klagenden Laut, der das Ausmaß seiner Verzweiflung verdeutlichte. Mit zitternden Fingern deutete er auf das Mädchen. Doreé.
Edith goss kochendes Wasser in zwei Tassen und setzte sich ihm gegenüber an den Tisch. »Du willst wissen, wer sie ist und was es mit dem geflügelten Hengst auf sich hat?«
Es überraschte Jakob nicht, dass sie es wusste. Edith wusste einfach alles. Wahrscheinlich hatte sie sogar auf diesen Tag gewartet. Schließlich malte er schon seit seinem dreizehnten Lebensjahr diese Bilder. Bevor er eine eigene Wohnung bezogen hatte, durfte er die Gemälde ausschließlich in seinem Zimmer aufbewahren, weil sie Edith mit Unbehagen erfüllten. Er starrte auf die Tasse in seiner Hand und wartete auf ihre Erklärung. Sein Magen knurrte vernehmlich. Ein flüchtiger Blick auf die Wanduhr zeigte ihm, dass er die Frühstückszeit um volle zwanzig Minuten überschritten hatte. Sein innerer Zwang drängte ihn zu einer Dusche, zu anständiger Kleidung und einer Schüssel Haferflocken, wollte ihn dazu bringen, weiterzumachen wie bisher, doch die Bilder auf der Arbeitsfläche hefteten ihn an seinen Stuhl, brachten sein Herz zum Rasen, bis er das Gefühl hatte, er müsste entweder schreien oder die Besinnung verlieren.
»Eigentlich darf ich dir nichts von ihr erzählen, zumindest nicht vor deinem und ihrem einundzwanzigsten Geburtstag. Es ist gefährlich«, begann Edith. Lautstark schlürfte sie an ihrem Tee.
Jakob drängte es danach, mehr zu erfahren, und so brummte er unwillig, um ihr seine Ungeduld zu verdeutlichen. Was auch immer die Wahrheit mit ihm anstellen würde, er musste es jetzt wissen.
Edith schmunzelte über seine gespannte Erwartung. »So emotional habe ich dich noch nie zuvor erlebt.«
Seine Augen huschten über ihr Gesicht, ein Zugeständnis an den Blickkontakt, den normale Menschen während eines solchen Gesprächs hielten. Er ahnte, dass ihre Worte alles verändern würden, inklusive ihrem
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