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ESCORTER (German Edition)

ESCORTER (German Edition)

Titel: ESCORTER (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Millman
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Verhältnis zueinander und Edith schien es ebenfalls zu ahnen, denn sie stieß einen resignierten Seufzer aus und wirkte plötzlich traurig.
    Jakob fühlte sich ihr zu Dank verpflichtet, liebte sie sogar, zumindest stellte er sich dieses Gefühl, das ihn bei ihrem Anblick erfasste, als Liebe vor. Sie hatte ihn groß gezogen, hatte sich um ihn gekümmert, nachdem seine Eltern, an die er sich nicht einmal erinnern konnte, ihn verstoßen hatten. Er musste sie einfach lieben. Würde sich daran etwas ändern, sobald er die Wahrheit erfuhr? Wollte er überhaupt alles erfahren? Plötzlich war er sich dessen gar nicht mehr so sicher.
    »Dieses Mädchen, das du immer wieder malst, ist deine Zwillingsschwester«, begann Edith.
    In seiner Vorstellung schlug er sich gegen die Stirn. Natürlich war sie das.
    »Bis zu eurem vierten Geburtstag seid ihr zusammen aufgewachsen«, fuhr seine Pflegemutter fort.
    Bis zu seinem vierten Geburtstag? Warum erinnert er sich dann nicht an sie? Seine Finger öffneten und schlossen sich aufgeregt. Da war ein Bild in seinem Kopf. Ein kleines Mädchen mit langen, geflochtenen Zöpfen. Doreé.
    »Aber da ist noch mehr«, Ediths Miene war ernst. »Etwas, was du über dich und deine Schwester und auch über deine Eltern wissen solltest.«
    Er versteifte sich, wollte plötzlich nichts mehr hören. Dass er seine Schwester malte, reichte ihm.
    »Du sollst dir nicht die Ohren zuhalten«, tadelte Edith. »Es ist wichtig, dass du alles erfährst, damit du die Zusammenhänge begreifst und verstehst, warum dich deine Eltern weggeben haben.«
    In diesem Augenblick hasste er seine Pflegemutter, weil sie ihm die Wahrheit aufzwang, diese grausame Wahrheit, die ihn aus seinem Schutzraum zerren würde, hinaus in die raue Wirklichkeit. Jede Faser seines Körpers wehrte sich dagegen.
    Edith trank einen weiteren Schluck Tee, während sich sein Mund in eine Wüste verwandelte.
    Und dann erzählte sie ihm alles.
     

 
     
     
     
6
     
    Doreé erwachte schweißgebadet in zerwühlten Laken. Die Decke hing halb auf dem Boden. Erneut hatte der geflügelte Hengst sie in ihren Träumen besucht. Verwirrt blickte sie sich um. Ophelia stand im Zimmer und musterte sie. Sie wirkte so klein, regelrecht winzig. War sie geschrumpft?
    »Ophelia, was machst du hier?«, fragte Doreé erschrocken.
    »Die Herrin is noch imma nich zu Haus.«
    Doreé setzte sich auf und rieb sich den Schlaf aus den Augen. »Sie wird schon wiederkommen.«
    »’s is scho fast drei Tage«, erwiderte Ophelia.
    »Und was soll ich deiner Meinung nach tun? Die Nachbarschaft absuchen? Flugblätter verteilen? Eine Vermisstenmeldung aufgeben?« Es sollte ein Scherz sein, doch Ophelia blieb ernst. Nicht dass sie ansonsten zu Späßen neigte, doch ihr Gesicht zeigte nicht den Hauch von Belustigung. Im Gegenteil, sie runzelte die Stirn und blickte nun regelrecht zornig drein.
    »Meine Güte, Ophelia, Mama ist eine erwachsene Frau. Vielleicht hat sie jemanden kennengelernt und ist mit ihm verreist.« Schon während sie die Worte sprach, merkte sie, wie lächerlich sie waren. »Okay, ich gebe zu, das ist Quatsch.«
    »Ich such sie, Dorii«, schlug Ophelia vor.
    Doreé musste sich ein Grinsen verkneifen. Wo wollte Ophelia nach ihrer Mutter suchen? Im Bankenviertel? In den Villen der Nachbarschaft? Wer würde ihr, einer kahlköpfigen, gebeugten Frau, überhaupt die Türe öffnen?
    »In Ordnung, tu das«, sagte Doreé. »Nimm dir den Tag frei und such’ nach meiner Mutter, wenn es dich beruhigt.«
    Ophelia kniff die Augen zusammen und zögerte. Anscheinend hatte sie noch etwas auf dem Herzen.
    »Ist sonst noch was?«, fragte Doreé.
    »Du musst aufpasse, Dorii«, erwiderte sie mit eindringlicher Stimme. »Lass niemand ins Haus, solange ich nich da bin.«
    Doreé fragte sich ernsthaft, ob Ophelia vielleicht den Verstand verloren hatte. Anders war ihr seltsames Verhalten kaum zu erklären. »Okay.«
    Ophelia zögerte noch einem Moment und verließ dann das Zimmer. Doreé blickte ihr nach, schüttelte den Kopf und fischte ihr Handy aus der Jeans. Eine SMS. Von David.
    Hast du Lust auf Brunch? Heute um halb zwölf? Bei dir? David.
    Brunch mit David? Warum nicht? Schnell tippte sie eine Antwort ein und warf einen Blick auf die Uhr. Halb elf. Sie hatte eine Stunde Zeit, um sich herzurichten. Barfuß, nur mit T-Shirt und Slip bekleidet, tapste sie in die Küche, ließ sich von der Wundermaschine ihrer Mutter einen Milchkaffee aufbrühen und nahm ihn mit in ihr Zimmer.

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