ESCORTER (German Edition)
Peitschenriemen auf Jakobs Rücken hinab. Sein flehender Blick suchte Irina, die bis an den Rand des Schachtes vorgetreten war, die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Ihre Tränen waren versiegt, doch in ihren Augen sah er, dass sie seinen Schmerz fühlte, jedes Mal wenn der Riemen seine Haut spaltete.
Die Gideonisten fielen in Ben Nurus Gebete ein und die Peitsche klatschte auf seinen Rücken. Gebete vereinten sich mit Schmerz und Blut, mit Irinas Augen, die auf ihm ruhten, ihm Halt gaben. Seit wann gelang es ihm, Blicke zu erwidern? Oder konnte er nur ihren Blick erwidern? Tränen benetzten seine Wangen. Er spürte es kaum. Niemand hielt ihn mehr fest, trotzdem konnte er sich nicht rühren. Er war gefangen in seinem Schmerz, erstarrt, wie an dem Tag, als Irina ihn geküsst hatte.
Hilf mir , flehte er stumm. Doch Irina konnte ihm nicht helfen. Niemand konnte das. Etwas Dunkles huschte zwischen den Gideonisten hindurch. Jakob sah es aus den Augenwinkeln. Eine Gestalt, nein, ein Schatten. Etwas Dunkles und Böses ging von ihm aus. Er folgte ihm mit seinen Augen, versuchte zu erkennen, um was es sich handelte. Ein Tier? Ein Kind? Die Lederriemen gruben sich in seine Lenden, spalteten die Haut. Blut rann über seinen Rücken. Der Schatten huschte davon, zu schnell, um ihn zu erfassen. Plötzlich stand er hinter Irina. Jakob runzelte die Stirn. Was ging hier vor?
Und dann geschah es. Wie in Zeitlupe sah er Irina fallen, sah ihr Erschrecken, das sich nur einen Herzschlag später in Entsetzen verwandelte.
Jakob streckte die Arme aus und schrie. »Iriiina!«
26
Der erste Schritt kostete Doreé Überwindung. Ihre Hoffnung, dass die Angst vergehen würde, sobald sie ein paar Schritte gegangen war, erfüllte sich nicht. Ihr schlotterten die Knie. Kühl und rau wölbte sich der Asphalt unter ihren nackten Füßen. Ein eigenartiger Geruch hing in der Luft, der Doreé an den Winter erinnerte. Frostig und klar unterlegt mit dem Geruch, den man in Krankenhäusern oft wahrnahm, sobald man das Zimmer eines Sterbenden betrat. Sich immer wieder aufmerksam umschauend, schritt sie die Straße entlang. Die Schatten der Hochhäuser reckten sich über die Straße, ließen nur einen schmalen Saum, um darauf zu gehen, denn eines wusste sie – die Schatten durfte sie keinesfalls betreten.
Schritt für Schritt trugen sie ihre nackten Füße voran. Nach einer Weile bemerkte sie, dass sie bei jedem Schritt einen goldenen Schimmer auf der Straße zurückließ. Wie Sternenstaub. Neugierig testete sie den Effekt, indem sie mehrmals auf eine Stelle trat und beobachtete, wie der Schimmer einen Abdruck ihrer Zehen und Fußsohle formte und dann langsam verging. Anschließend probierte sie es mit den Schatten der Häuser. Ganz vorsichtig stippte sie ihre Zehen in die Schwärze. Eiseskälte umschloss ihren Fuß, sobald sie die Oberfläche berührte, als würde sie ihn in Eiswasser tauchen. Einen Herzschlag lang verweilte der goldene Schimmer auf der Oberfläche. Die Schwärze zog sich zuckend zurück, näherte sich jedoch sofort wieder, drang von allen Seiten auf den Schimmer ein, bis er sich schließlich auflöste und verschwand.
Schnell zog Doreé ihren Fuß zurück. Sie musste weiter.
Während sie dem Mittelstreifen folgte, überlegte sie, wie sie es überhaupt schaffte, diese Welt und alles, was in den letzten Wochen geschehen war, zu ertragen. Warum hatte sie nicht den Verstand verloren? Lag es vielleicht daran, dass sie schon immer gespürt hatte, dass sie anders war? War das Wissen um die Existenz von Dämonen und Boten unbewusst schon immer ein Teil von ihr gewesen? Sie versuchte, sich zu erinnern, beschwor Bilder herauf von ihrer Mutter, ihrem Bruder und Ophelia. Von ihrem Vater. So viel Liebe und Traurigkeit in den Augen ihres Vaters, wann immer er ihre Mutter angesehen hatte. Er hatte gewusst, wer sie war, das erkannte sie jetzt. Warum war er trotzdem bei ihr geblieben? Hatte er wirklich an die Aufrichtigkeit ihrer Gefühle für ihn geglaubt? Hatte er geglaubt, dass sie sich ändern würde? Für ihn?
»Ich verachte dich, Mutter«, sagte Doreé in die Stille hinein.
Die Worte taten weh. Zugleich befreite es sie, endlich zuzugeben, was sie so lange vor sich selbst geleugnet hatte. Es laut auszusprechen, in dem Wissen, das es der Wahrheit entsprach. In ihrem alten Leben hätte sie es nie gewagt, doch hier, in dem leblosen Abbild ihrer Welt durfte sie es endlich zugeben. Sie verachtete ihre
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