Esel
lange nicht meine Nacht neben Friedhelm verbringen.«
»Wie Sie wollen. Sie können auch gerne auf dem Hof schlafen. Sie müssen nur auf Victor aufpassen, der läuft nachts frei herum.«
»Victor?«
Elli zeigt zu einer kleinen Hütte, mit einem Loch an der Seite, das groß genug ist, um eine Wildsau rein- und rauszulassen. Elli pfeift, und Victor schießt aus dem Loch. Victor ist keine Wildsau, sondern eine Abrissbirne auf vier Beinen. Sein Kopf besteht nur aus einem gigantischen Unterkiefer, der mit blutroten Schlabberlefzen von der Natur eher lieblos als wohlmeinend dekoriert wurde. Sein Oberkörper ist wuchtig wie ein Kirmesboxer, sein krauses Fell hat eine verdächtige Ähnlichkeit mit Ellis Frisur. Victor schießt auf mich los und wird knapp einen Meter vor mir plötzlich nach hinten gerissen, weil er wieder einmal erst kurz vor dem Ziel unsanft daran erinnert wurde, dass er nur nachts ohne diese dicke Stahlkette frei herumlaufen darf.
»Okay, Elli, wo genau soll ich mich hinlegen?«
Elli zeigt mir den Weg, während Victor sich in seine Hütte schleicht, um in Ruhe darüber nachzudenken, welchen meiner Körperteile er heute Nacht als Erstes zerlegen wird.
Ich habe großen Hunger und versuche, mir im Stroh ein wenigstens einigermaßen menschenwürdiges Lager zu basteln, muss aber feststellen, dass mein Vorhaben zum Scheitern verurteilt ist. Das Stroh sticht durch den dünnen Stoff des Schlafsacks, und in Sicht- und Duftweite furzt Friedhelm sich in den Schlaf. Er scheint zufrieden, ich bin es nicht.
Gute Nacht!
MAILVERKEHR
Liebe Karin,
habe die erste Station meiner Reise erreicht, die Uckermark ist wirklich unglaublich schön. Viel schöner, als ich gedacht hatte. Nicht ganz so schön wie Lucca, aber schon sehr schön. Und gar nicht mal kalt. Heute Nacht schlafe ich direkt bei dem Esel im Stall. Kannst du dir das vorstellen? Ich in einem Stall? Habe sehr lecker gegessen – Hausmannskost, ein bisschen fettig, aber genau das Richtige nach einer langen Wanderung. Die Wirtin des Hofes ist sehr nett. Wir haben uns lange unterhalten, schon toll, was man über diese Landschaft hier erfahren kann, wenn man sich nur ein wenig dafür interessiert. Und die Menschen hier sind total glücklich, wenn man ihnen das Gefühl gibt, sich für sie zu interessieren. Heute hat mich ein Vieh gestochen, aber halb so wild. Das gehört dazu, oder? Wenn man in der freien Natur unterwegs ist, darf man nicht zimperlich sein.
Wenn du magst, ruf ich dich morgen mal an, würde gerne deine Stimme hören. Schreib doch mal, hier gibt es überall Netz. So, ich muss jetzt leise sein, Friedhelm schläft schon. Kleiner Scherz.
Schlaf auch schön …
Dein Björn
Gesendet vom Handy – 23:13 Uhr
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Hallo Björn,
schlaf auch schön.
Karin
Gesendet vom Handy – 1:34 Uhr
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Liebe Karin,
habe gerade durch Zufall deine Mail gesehen, kann auch nicht schlafen, bist du noch wach?
Björn
Gesendet vom Handy – 1:35 Uhr
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Liebe Karin,
ich bin’s noch mal. Wir könnten auch noch telefonieren, leise. Ich kann nur nicht raus aus dem Stall, weil draußen ein Hund frei herumläuft. Feiner Kerl, nur nachts ein bisschen paranoid, kein Wunder, wenn alles so unheimlich ist. Soll ich anrufen?
Dein Björn
Gesendet vom Handy – 1:54 Uhr
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… kann nicht telefonieren, sehr laut hier.
K.
Gesendet vom Handy – 2:45 Uhr
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Karin? Wo bist du?
Björn
Gesendet vom Handy – 2:46 Uhr
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Morgen, ja?
Gesendet vom Handy – 2:50 Uhr
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Kein Problem, bin eh zu müde, muss morgen viel Strecke machen.
B.
Gesendet vom Handy – 2:53 Uhr
10. Kurze Nacht, lange Erkenntnis
Elli hat mir ein Frühstück gemacht. Es ist zu gut, um es grundlos schlecht zu finden, aber nach dieser Nacht hätte ich auch Dachpappe auf Toast gegessen. Nun verschlinge ich bereits meine dritte Portion gebratenen Speck, der genauso kross ist, wie ich ihn liebe und selber nicht hinbekomme.
»Gut geschlafen?«, fragt Elli und gießt Kaffee nach.
»Super.«
Ich werde ihr auf keinen Fall von dieser Nacht erzählen, die ich mich auf dem Schlafsack wälzend, ohne ein Auge zugemacht zu haben, in diesem Stall neben Friedhelm verbringen musste. In Gedanken bei meiner Frau, die sich mitten in der Nacht an einem Ort aufhielt, der zu laut für ein kleines Telefongespräch war. In Gedanken bei meiner Frau, die ihre Mails mit K. unterschreibt,
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