Esel
doch abzuhauen? Es regnet zwar immer noch, aber lieber nass, als einen weiteren ganzen Tag mit Markus und Sabine und den dazugehörigen Eseln zu wandern.
Der Anblick der drei blauen Punkte auf Markus’ Hand hält mich von weiteren Überlegungen in dieser Richtung ab.
Es ist besser, zu dritt zu wandern, als allein zu sterben.
Sechs Stunden später regnet es immer noch, und der bestialische Geruch, eine Mischung aus altem Esel und nasser Funktionskleidung, sorgt wenigstens dafür, dass keinerlei Ungeziefer im Stall zu sehen ist.
Ich weiß nicht, ob ich ein Auge zugemacht habe. Wenn ich darüber nachdenke, würde ich sagen, auf keinen Fall, aber das kann nicht sein. Kein Mensch kann sechs Stunden wach auf einem Strohballen sitzen, dem Regen lauschen und dabei einen kriminellen Wahnsinnigen beobachten. Markus liegt da wie ein Embryo, nur dass er bei weitem nicht so unschuldig ist.
Sabine schläft noch immer, und so langsam glaube ich, sie schläft wirklich.
Markus hingegen wird langsam wach, er blinzelt und tastet neben sich, als wolle er einen Wecker ausschalten oder schauen, ob der Mithäftling noch lebt.
Auch wenn es bescheuert klingt, ich bin froh, dass er wach wird, denn die Stille auszuhalten ist deutlich schwerer, als sich, wie im Klassenraum, nach Stille zu sehnen.
»Morgen«, nuschelt Markus.
»Morgen, Markus.«
»Regnet’s noch?«
Schau doch mal nach draußen, bin ich das Wetteramt!?
»Ich glaube nicht«, antworte ich.
Tatsächlich, es hat aufgehört, ich weiß nicht, wie lange schon. Ich habe das Ende des Dauerregens schlicht verpasst. Kein Wunder, ich musste mich auf etwas anderes konzentrieren. Auf die Vermeidung von Störgeräuschen beispielsweise. Ich habe einen Knöchel, der bei bestimmten Bewegungen ganz leise knacks macht. Den Knöchel habe ich keinen Millimeter bewegt. Sechs Stunden lang. In der letzten Stunde habe ich eine zunehmende Schwellung am Knöchel bemerkt. Vermutlich eine Wassereinlagerung. Was soll’s, auch egal, Wassereinlagerungen sind jetzt das kleinste Problem für mich. Was zählt, ist, dass Markus sich nicht unnötig aufregt. Normalerweise bin ich nur damit beschäftigt, dafür zu sorgen, dass ich mich selber nicht aufrege. So gesehen hat sich in den vergangenen Stunden eine Menge bei mir verändert. Die Ausgeglichenheit eines mir völlig fremden Menschen ist mir wichtiger als mein eigenes Wohlergehen. Wahnsinn, wer hätte das von mir gedacht? Ich ganz bestimmt nicht.
Wenigstens habe ich keinerlei Gedanken an Karin verbracht. Es war mir egal, mit wem und wo sie die Nacht verbracht hat. Gut, egal war es mir nicht, aber ich hab’ einfach mal nicht daran gedacht. So gesehen hat Markus auch was Positives.
»Ich geh jetzt«, verkündet Markus nun.
»Ah ja.«
Wollte er nicht mit uns nach Plötzen?
»Glaub ja nicht, dass du mitkommen darfst.«
Er sagt es mit einer Bestimmtheit, die jeden Protest im Keim erstickt. Ich hätte aber auch gegen seine Bestimmtheit nicht protestiert.
»Ach«, kommentiere ich seinen Plan, so neutral es irgendwie geht.
»Nee, hab’ keinen Bock auf Gesellschaft, ich lauf’ lieber allein. Pennt die immer noch?«
Markus zeigt auf Sabine, die den Wunsch von seinem Alleingang, wenn überhaupt, nur im Unterbewusstsein wahrnimmt.
»Ich glaub’ schon, die hat einen tiefen Schlaf.«
»Woher weißt du das? Hast du schon mal mit der zusammen gepennt?«
Markus’ Frage ist nicht unberechtigt. Und ich weiß nicht, was ich antworten soll. Gleich ist er weg, und ich möchte auf keinen Fall vorher noch einen Streit provozieren.
»Nee, aber so wie die da liegt, hat die sich die ganze Nacht nicht gerührt, keinen Zentimeter.«
»Woher weißt du das? Hast du sie die ganze Nacht beobachtet?«
»Ich konnte nicht schlafen.«
»Wegen mir?«
Das heißt nicht wegen mir, das heißt meinetwegen. Wahrscheinlich ist es aber nicht ganz so schlau, ihm das jetzt zu sagen. »Nein, nein, nicht deinetwegen … ich mein’, nicht wegen dir … ich kann nur nicht schlafen, wenn es regnet.«
»Nimmst du Tabletten?«
»Nein. Warum?«
»Zum Pennen.«
»So schlimm ist es nun auch wieder nicht.«
»Also doch wegen mir. Hast du Schiss vor mir?«
Markus versucht, logisch zu denken.
»Quatsch, warum?«
»Weil ich einen umgenietet habe.«
»Du hattest bestimmt deine Gründe.«
»Allerdings.«
»Na dann.«
»Willst du mich verarschen?«
»Nein, wieso?«
»Meinst du, man darf einen umnieten, nur weil man einen Grund hat?«
Ich weiß nicht, wann ich das
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