Esel
letzte Mal ein Gespräch dieser Qualität mit einem Schüler geführt habe. Ich weiß nicht, ob ich überhaupt jemals ein Gespräch dieser Qualität mit einem Schüler geführt habe. Die meisten Schüler reden ja gar nicht mehr mit mir. Was ich in den meisten Fällen begrüße. Und im Unterschied zu Markus geht von den wenigsten meiner Schüler eine ernsthafte Gefahr aus.
Die logischen Ableitungen, wie sie Markus macht, haben durchaus ihren Reiz. Auch wenn ich auf die unmittelbare Bedrohung durch ihn durchaus verzichten könnte.
»Nein, man darf keinen Menschen umnieten, egal, ob man einen Grund hat oder nicht.«
Ich klinge wie ein Pfarrer. Moralinsaures Geseiere. Schlimm.
Sabine schaut mich an, sie ist wach, macht aber sofort die Augen wieder zu, als ich sie anschaue. Die Frau ist anscheinend wild entschlossen, das sich androhende Massaker nicht mit wachem Blick zu verfolgen.
»Was denkst du denn dann über mich?«, will Markus nun wissen.
»Ja, schwierig zu sagen.«
»Was ist denn daran schwierig, sag einfach, was du denkst.«
Markus knetet dabei seine Finger, was mein Nachdenken erheblich beschleunigt.
»Ich denke, du hattest deine Gründe, jetzt mal ganz objektiv betrachtet.«
»Objektiv?«
»Ja, ich meine, ein Grund ist erst mal nur ein Grund, rein objektiv, es gibt dann natürlich gute Gründe, akzeptable Gründe, verwerfliche Gründe …«
»Klappe!«
»Natürlich.«
Markus wirkt völlig überfordert, und ich bin schuld daran.
»So, ich hatte also meine Gründe einen umzunieten. Objektiv! Das denkst du?«
»Ja, das denke ich.«
»Ich glaub’ dir kein Wort.«
»Äh … warum?«
»Ich stell’ hier die Fragen.«
Sabines Atem geht schneller, man sieht es deutlich, und wenn Markus das endlich auch mal bemerken würde, dann wäre seine verdammte Aufmerksamkeit nicht nur auf mich gerichtet.
Markus fixiert nur mich. Mich! Mich! Mich!
Himmel, Karin, wenn du sehen könntest, in was für einer Situation ich hier stecke, einer Situation, die im Übrigen du allein zu verantworten hast, dann würdest du jetzt an meiner Seite sein, um mich zu befreien oder wenigstens zu unterstützen. Oder? Oder? Oder?
Würdest du mich etwa feige im Stich lassen, würdest du einfach wegrennen, um mich meinem Schicksal zu überlassen, dem sicheren Tod? Würdest du fliehen, weil dir mein Schicksal egal ist? Weil ich es verdient habe, im Stich gelassen zu werden? Karin? Karin? Karin?
Würdest du etwa genauso reagieren wie damals in …
23. Nie wieder Malta. Nie wieder!
Es war meine Idee, die Osterferien auf Malta zu verbringen. Karin war von Anfang an dagegen gewesen. Sie war mit dem festen Vorsatz mitgekommen, ihr Dagegensein ausgiebig zu demonstrieren und in keiner Sekunde auch nur so zu tun, als wäre Malta schon immer ein Traumziel für sie gewesen.
Unsere Ehe war noch jung, viel zu jung für einen Urlaub auf Malta, aber auch noch etwas zu jung für Lucca und die Toskana. Wir waren beide in dem Alter, in dem das Unterhaltungsangebot am Urlaubsort fast wichtiger ist als die Landschaft, das Wetter und das Essen. Dem Reiz frischgepressten Olivenöls waren wir damals ebenfalls noch nicht erlegen, und das Geräusch der Zikaden reichte uns noch nicht als einzige romantische Beschallungsquelle in lauwarmen Nächten.
Ich hätte es wissen müssen, aber ich war noch zu sehr Lehrer, selbst die Urlaubsplanung funktionierte nach dem Prinzip eines Curriculums. Sehr strukturiert, ohne Platz für Emotionen und Individualität. Ich glaubte noch an das, was andere mir vorgaben. Prospekte, Tipps von Kollegen, die üblichen Reiseempfehlungen auf den letzten Seiten der Zeitungen, die es damals noch gab. Die Metamorphose vom echten Beamten mit Lehrauftrag und Lehrberufung zum Papierbeamten mit Lehrauftrag ohne Lehrberufung war noch nicht vollständig abgeschlossen.
Malta war ein Unding, ein inselgewordener Killer von jungen Beziehungen. Ich hätte es wissen müssen.
Malta prahlt in den Osterferien mit durchschnittlich neun Sonnenstunden am Tag. Als wir die Insel bereisten, war die touristisch interessante Prahlerei nichts anderes als eine ausgemachte Lüge. Valletta, Maltas Hauptstadt, gilt als eine der bestgesicherten Städte der Welt. Es scheint fast so, als hätte diese Stadt mehr Bastionen als Einwohner. Doch gegen den Feind von oben war und ist auch Valletta machtlos. Es regnete bei unserer Ankunft, und es regnete bei unserer Abreise. Die wenigen Sonnenstunden dazwischen verbrachten wir im Streit. Damals konnte ich nicht
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