Esel
Einbildung musste das Blut von einem kleinen Jungen stammen, den er gerade geschlachtet hatte, und jetzt bot er mir ein Stück davon an.
Ich kann noch heute keine Fleischwurst essen, ohne daran zu denken, woher sie möglicherweise stammen könnte.
Der Tag, an dem meine Mutter beschloss, wenigstens meine Angst vor einer Fleischwurstscheibe zu besiegen, war ebenfalls nicht von Erfolg gekrönt. Sie hatte mich allein zum Einkauf geschickt, und natürlich sollte ich mich an der Fleischtheke anstellen, um dort vier kleine Schnitzel zu kaufen. Bruntteck bot mir wie immer die Fleischwurst an. Ich kollabierte auf der Stelle, nicht ohne mich vorher noch schnell in den Einkaufswagen einer wildfremden Frau zu übergeben. Es war das erste Mal, dass mich ein Notarztwagen nach Hause brachte.
Ich musste nie wieder Schnitzel kaufen.
Mein Vater hatte mit meiner Angst eigentlich kein großes Problem. Im Gegenteil, er sah es positiv: Er brauchte mir kein Fahrrad zu kaufen, weil ich Angst hatte, damit überfahren zu werden. Er musste keine Nikotinsucht finanzieren, nicht mal eine heimliche. Ich habe nie geraucht, aus Angst vor Brandverletzungen und Lungenkrebs. Und deshalb gab es auch keinen Grund, verbotenerweise Geld aus seinem Portemonnaie zu stibitzen.
Meine Wünsche waren zumeist harmlos und ungefährlich und damit preiswerter als die Wünsche Gleichaltriger. Ich wollte kein Mofa, keinen Roller, geschweige denn ein richtiges Motorrad, ich wollte gar nichts mit Reifen. Alles viel zu gefährlich. Nachdem ich in den Nachrichten einen entgleisten Güterzug gesehen hatte, erschien mir auch das Bahnfahren zu risikoreich.
Mein Vater sparte jede Menge Geld, während ich meistens zu Hause blieb oder zu Fuß unterwegs war. Mal abgesehen von den Tagen, an denen Glatteis auch diese Form der Fortbewegung viel zu gefährlich machte.
Eigentlich wollte ich nur Sicherheit, und die war unbezahlbar. Als sich aber meine kindliche Angst auf sehr erwachsene Zukunftsängste ausweitete, sah auch mein Vater notgedrungen Handlungsbedarf. Die Angst vor der Zukunft wollte er mir nehmen, vielleicht, weil er sich nicht vorstellen wollte, ein Leben lang auf mich aufpassen zu müssen. Die ersten großen Entscheidungen konnte er mir aber nicht abnehmen, er hätte es gerne getan.
Zur Bundeswehr musste ich nicht und zum Zivildienst auch nicht. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich dem zarten Anflug von Asthma dankbar, das mich für derlei Verwendungen untauglich machte. Was aber leider auch meine Angst vor der Zukunft beschleunigte. Denn ich musste mich direkt nach dem Abitur in Richtung Beruf entscheiden, statt, wie die meisten anderen Leidensgenossen, gepflegte Langeweile in Kasernenstuben oder Krankenhäusern zu zelebrieren.
Ich wusste wirklich nicht, was ich mit diesem großen Rest vom Leben anfangen sollte. Einem Leben, das mir voller Gefahren und Unwägbarkeiten erschien. Ich hatte nicht nur Angst vor drohender Arbeitslosigkeit, ich hatte auch ein bisschen Angst vor zu viel Stress. Ein entfernter Onkel von mir ist mit 42 Jahren an einem Herzinfarkt gestorben, stressbedingt. Kein Wunder, dass man da entsprechend sensibler wird, wenn es um Stressvermeidung geht. Am Ende blieb für mich eigentlich nur ein Beruf übrig, den man wenigstens einigermaßen angstfrei in Erwägung ziehen konnte …
22. Finale in der Uckermark
»… du bist selbständig. Stimmt’s?«
Markus scheint meine Antwort gar nicht erst abwarten zu wollen. Wozu auch? Er kennt sie ja, er hat den Durchblick. Ich aber auch, denn jetzt kann ich ganz beruhigt die Augen wieder aufmachen. Selbständig! Ja! Natürlich!
Mich durchströmt ein Glücksgefühl, wie ich es schon lange nicht mehr hatte. Er weiß nicht, dass ich ein Lehrer bin, und wird es von mir auch ganz bestimmt nicht erfahren.
»Nicht schlecht, echt.«
Ich heuchele Anerkennung und Respekt. Bei meinen Schülern bin ich dazu nicht imstande, hier schon. Weil es hier Sinn macht, weil Anerkennung und Respekt in dieser speziellen Ausnahmesituation lebensverlängernde Maßnahmen sind.
»Mir kann man nichts vormachen.« Markus ist stolz auf seine Leistung, auch wenn es dazu keinerlei Grund gibt.
»Den Eindruck habe ich auch«, pflichte ich ihm bei.
»Aber jetzt wird geschlafen.«
»Natürlich.«
»Und morgen nach Plötzen.«
»Unbedingt.«
»Dann erzählst du mir, was du so machst.«
»Gerne.«
Sabine schläft, unfassbar, und ich sollte es jetzt auch tun. Oder sollte ich besser nur warten, bis Markus schläft, um dann
Weitere Kostenlose Bücher